Intensivmedizin ist mehr als abstrakte Gerätemedizin

Intensivmedizin ist mehr als abstrakte Gerätemedizin
Tag der Intensivmedizin: In der Corona-Pandemie rückte die Notfallversorgung in den Blickpunkt. Es gibt aber falsche Vorstellungen.

Die Betreuung Schwerkranker, die lebensrettenden Maßnahmen, die Notfallversorgung: Der Stellenwert der Intensivmedizin in der Versorgung von oft lebensbedrohlichen Zuständen ist unbestritten. Dennoch halten die verbreiteten Vorstellungen einer modernen Intensiv-Betreuung längst nicht mehr Stand. Anlässlich des Tags der Intensivmedizin, der weltweit am 20. Juni begangen wird, soll die Vielfalt dieser medizinischen Disziplin in den Vordergrund rücken.

„Die Corona-Pandemie hat ein Schlaglicht auf unsere intensivmedizinische Tätigkeit geworfen. In der Krise wurde beispielhaft deutlich, welche Leistungen die Intensivmedizin für schwer kranke Menschen erbringt und welche Bedeutung eine ausreichende intensivmedizinische Ausstattung für die Gesundheitsversorgung hat“, betont Univ.-Prof. Dr. Klaus Markstaller (MedUni Wien/AKH Wien), Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI).

Er hofft, die Erfahrungen aus der Pandemie tragen dazu bei, die immer wieder aufflackernde Diskussion  Eine über eine Reduktion der Intensiv-Kapazitäten zu stoppen. Österreich verfügt in öffentlichen Krankenhäusern über etwa 44.000 Betten im akutstationären Bereich, wovon rund 2.450 Intensivbetten sind. Rund 120 Intensivstationen sind in der Versorgung aktiv (Daten 2018, Bundesministerium für Soziales, Gesundheit und Pflege). 

 Individuelle Bedürfnisse im Fokus

Im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorstellungen ist moderne Intensivmedizin nicht menschenfern und gerätenzentriert, sondern die Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen stehen im Mittelpunkt. Ein differenzierter Geräteeinsatz nach Bedarf, ein ganzheitliches Konzept, interdisziplinäres und interprofessionelles Teamwork seien wichtige Säulen der menschenzentrierten intensivmedizinischen Betreuung, betont man in der Gesellschaft. 

Vielfach sei nicht bekannt, dass mehr als die Hälfte der Anästhesiologinnen und Anästhesiologen nicht im Bereich der Narkose-Betreuung arbeitet, sondern in anderen Tätigkeitsbereichen: Ein sehr wesentlicher davon ist, neben Notfall-, Schmerz- und Palliativversorgung, die Arbeit an den Intensivstationen.

Marstalles fordert: Wenn jetzt über die Lehren aus der aktuellen Pandemie diskutiert wird, dürfe auch das Risiko eines möglichen Mangels  an Fachärztinnen und -ärzten für Anästhesiologie und Intensivmedizin nicht übersehen werden. 

 Entstanden aus Erfahrungen einer dänischen Polio-Epidemie

Am Beginn der modernen Intensivmedizin stand eine Polio-Epidemie in den 1950er Jahren,  im Zuge derer durch den Einsatz neuer Beatmungstechniken anstatt der „Eisernen Lunge“ und die Einrichtung spezialisierter Versorgungseinheiten die Sterblichkeit der an der Virusinfektion schwer Erkrankten deutlich gesenkt werden konnte. „Heute sind wir in der Lage, fast jedes Organ des menschlichen Körpers zu unterstützen oder zeitweise zu ersetzen“, berichtet Univ.-Prof. Dr. Walter Hasibeder (Krankenhaus St. Vinzenz, Zams), zukünftiger Präsident der ÖGARI. „Neue Beatmungstechnologien erlauben eine schonende Interaktion der Patientinnen und Patienten mit ihrem Beatmungsgerät. Eine zunehmende Kultur der Qualitätskontrolle und Bündelung von Therapiemaßnahmen, die in großen Studien ihren Nutzen bei bestimmten Erkrankungen bewiesen haben, hat die Sterberate der kritisch Kranken an den Intensivstationen über die letzten Jahrzehnte massiv gesenkt.“ Durch die laufende Weiterentwicklung der Intensivmedizin haben sich auch die Möglichkeiten und Grenzen der modernen Chirurgie laufend erweitert, sagt Prof. Hasibeder. „Patientinnen und Patienten in ihren 80ern werden heute großen herzchirurgischen oder onkologischen Eingriffen unterzogen – und das mit guten Erfolgen.“

 

 

 

 

 

„Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Vorstellung ist moderne Intensivmedizin nicht menschenfern und gerätenzentriert, sondern wir stellen die Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen in den Mittelpunkt“, betont Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Eva Schaden, Leiterin der AG Intensivmedizin in der ÖGARI (MedUni Wien/AKH Wien). „Für die akut schwer erkrankten, schwer verletzten oder gerade operierten Menschen, die auf die Intensivstation kommen, gibt es jeweils ein an die Situation angepasstes individuelles Behandlungskonzept, wobei der Patientenwille eine zentrale Rolle spielt.“ Ein differenzierter Geräteeinsatz nach Bedarf, ein ganzheitliches Konzept, interdisziplinäres und interprofessionelles Teamwork seien wichtige Säulen der menschenzentrierten intensivmedizinischen Betreuung, so Prof. Schaden.

 

Eine wichtige Rolle spiele in der modernen Intensivmedizin die Einbeziehung von Angehörigen bzw. Freundinnen und Freunden der kritisch Kranken. „Im Sinne des Infektionsschutzes und der Pandemieeindämmung waren Maßnahmen wie die strikten Besuchsregeln der vergangenen Monate in den Krankenhäusern sinnvoll und wichtig – und gerade wir Intensivmedizinerinnen und -mediziner sind dankbar für die große Disziplin, die viele Menschen hier gezeigt haben“, sagt Prof. Schaden.  „Aber diese Situation hat uns in besonderer Weise die wichtige Rolle vor Augen geführt, die der Kontakt mit vertrauten Menschen für Schwerkranke spielt. Wir nehmen aus der aktuellen Krise auch den Arbeitsauftrag mit, vermehrt Tools zu entwickeln, die auch in solchen Ausnahmesituationen  Kommunikation mit Angehörigen ohne großen Aufwand möglich machen.“

 

Die zukünftige Entwicklung der Intensivmedizin stehe vor einer Reihe von Herausforderungen, sagt Prof. Schaden: „Ethische Fragestellungen im Hinblick auf den langfristigen Erfolg einer Intensivtherapie werden immer mehr an Bedeutung gewinnen. Durch neue Entwicklungen im Bereich der Telemedizin wird intensivmedizinische Expertise auch für  Normalstationen zur Verfügung stehen. Der technische Fortschritt sollte es möglich machen, frühzeitig negative Veränderungen der Vitalparameter zu erkennen und so unerwartete Verschlechterungen des Gesundheitszustands durch zeitgerechte Alarmierung intensivmedizinischer Teams zu verhindern.“ Eine einheitliche und umfassende Datenerhebung in österreichischen Intensivstationen, die auch als Teil des Nationalen Aktionsplan Sepsis (NAPS) angestrebt wird, soll ein besseres Bild der Epidemiologie bestimmter Krankheitsbilder bieten – dieses Wissen kann dann eine Basis für gesundheitspolitische Initiativen werden.          

Auch für die Zukunft Kapazitäten und personelle Ausstattung sicherstellen

 

„Zu Recht wird derzeit viel über die Lehren aus der aktuellen Pandemie und über wichtige Präventionsmaßnahmen für die Zukunft diskutiert – von der Sicherstellung der Versorgung mit wichtigen Medikamenten bis zur Notwendigkeit, bei Produkten wie der Schutzausrüstung unabhängiger von internationalen Märkten zu sein. Nicht übersehen werden darf dabei, dass wir unbedingt auch einem möglichen Mangel an Fachärztinnen und -ärzten für Anästhesiologie und Intensivmedizin vorbeugen müssen“, betont Prof. Markstaller. Eine Studie, die die ÖGARI noch vor dem Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie in Auftrag gegeben hat und deren Ergebnisse durch die aktuellen Ereignisse an Brisanz gewonnen haben, zeigt die Dimensionen des Problems. „Diese Daten belegen, dass – sollten wir nicht rasch gegensteuern – ein spürbarer Mangel an Anästhesistinnen und Anästhesisten droht, jedenfalls in einigen Regionen und Spitalstypen“, so der ÖGARI-Präsident. Ebenso müsse auch der Bedarf an qualitativ hochwertig ausgebildeten Pflegepersonen gedeckt werden, um weiterhin eine exzellente, flächendeckende intensivmedizinische Versorgung Österreichs zu gewährleisten.

 

Welche Auswirkungen eine unzureichende intensivmedizinische Infrastruktur haben kann, erklärt Prof. Hasibeder: „Der Vergleich zwischen verschiedenen europäischen Ländern zeigt beispielsweise, dass Länder mit einer geringen Intensivbettenzahl pro Kopf eine bis zu 5-fach höhere Sterblichkeit nach großen Operationen aufweisen. Die Bedeutung einer ausreichenden intensivmedizinischen Versorgung hat sich auch in der SARS-CoV-2-Pandemie gezeigt. In Ländern mit geringer Intensivkapazität war die SARS-CoV-2 Sterblichkeit bereits zu Beginn der Pandemie sehr hoch und die Gesundheitssysteme waren nach kurzer Zeit überfordert – eine an individuellen Bedürfnissen adaptierte Intensivmedizin wurde durch, eine für Gesundheitsberufe und Angehörige extrem belastende, Triagemedizin abgelöst. Es verwundert einen, dass kurz nach dieser Krise bereits wieder Stimmen laut werden, die Intensivbettenkapazitäten in Österreich zu reduzieren.“ Eine solche Forderung sei schon angesichts der Bevölkerungsentwicklung nicht nachvollziehbar, so Prof. Markstaller. Während das durchschnittliche Alter an Intensivstationen Anfang der 1990er Jahre bei 55 Jahren lag, beträgt es heute 70 Jahre. „Schon allein diese Entwicklung führt zu einem zunehmenden künftigen Bedarf an Intensivmedizin, für den die Kapazitäten sichergestellt werden müssen.“

 

Historisches: Am Anfang der Intensivmedizin stand eine Epidemie

Die Intensivmedizin ist ein vergleichsweise junges medizinisches Spezialgebiet. Begonnen hat alles im Jahr 1952 mit der Polioepidemie in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen. In einem Krankenhaus standen nur eine einzige eiserne Lunge und sechs Cuirass-Beatmungsgeräte zur Verfügung, um Patientinnen und Patienten mit Atemlähmungen zu beatmen. Innerhalb kürzester Zeit entwickelten mehrere hundert meist junge Menschen eine zunehmende Lähmung der Atemmuskulatur. Die medizinische Infrastruktur war vollständig überfordert, die Sterberate der Betroffenen lag bei 80 bis 94 Prozent. Auf Initiative von Prof. Henry Lassen, Chefarzt des Blegdam Spitals in Kopenhagen, wurde ein 12-jähriges Mädchen mit Bulbärparalyse erstmals chirurgisch tracheotomiert (Luftröhrenschnitt), ein Gummischlauch wurde in die Luftröhre eingeführt und das Kind wurde mittels Ambubeutel (Handbeatmungsbeutel) händisch druckbeatmet. Die Tracheotomie ermöglichte auch ein regelmäßiges Absaugen der Atemwegssekrete. Kurze Zeit später wurden zirka 250 Medizinstudierende rekrutiert um gemeinsam mit etwa 40 Ärzten diese neue Behandlungsmethode durchzuführen. Die Mortalität der am schwersten erkrankten Poliomyelitis-Patientinnen und -Patienten konnte auf diesem Weg halbiert werden. Dr. Bjorn Ibsen, ein Anästhesist der Universitätsklinik Kopenhagen, hatte die Idee, diese Patientinnen und Patienten gemeinsam in speziellen Räumlichkeiten zu betreuen. Auf diese Weise entstand im Dezember 1953 die erste Intensivstation. Kurze Zeit später wurde die Technik der Blutgasanalyse durch die Entwicklung der pH, pCO2 und pO2-Elektroden durch die Experten Astrup, Siggard-Anderson und Severinghaus in die Medizin eingeführt. Damit war erstmals eine Überprüfung und Adaptierung der Beatmungstherapie nach physiologischen Parametern möglich. 1954 wurden von Carl Gunnar Engström die ersten maschinellen „Balg-Respiratoren“ zur Behandlung von Poliopatienten in der neuen Disziplin der Intensivmedizin etabliert. Diese Respiratoren ermöglichten eine positive Druckbeatmung mit konstantem Luftvolumen. Mit der Entwicklung des ersten Mikroprozessor-gesteuerten Beatmungsgerätes begann 1971 eine neue Ära der Intensivmedizin. Der erste Lehrstuhl für Anästhesiologie in Österreich – und zugleich im gesamten deutschsprachigen Raum – wurde 1959 in Innsbruck errichtet, an der Wiener Universitätsklinik wurde 1961 das seit 1955 bestehende Extraordinariat für Anästhesiologie in einen Lehrstuhl umgewandelt. Die erste Intensivstation Österreichs entstand 1963 in Wien.

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