Ein Heißluftballon schwebt über der neuseeländischen Landschaft. Aus dem Korb lächelt ein Kind in die Kamera. Er sei damals in der sechsten Klasse gewesen, erzählt der Mann Jahre später. Es sei ein Samstag gewesen, für zehn Dollar konnte man mit dem Ballon aufsteigen. Seine Mutter, die am Boden wartete, habe das Foto gemacht, das nun vor ihm auf dem Tisch liegt.
Doch die Erinnerung des Mannes trügt. Das Bild war für eine Studie manipuliert und ihm zusammen mit drei echten Fotos vorgelegt worden. Die Wissenschafter baten ihn, vier Erlebnisse aus seiner Kindheit zu beschreiben. Das Ergebnis: Nach nur drei Befragungen hatte die Hälfte der insgesamt 20 Probanden Erinnerungen an eine Ballonfahrt erschaffen, die nie stattgefunden hatte.
Die Studie aus dem Jahr 2002 reiht sich ein in eine lange Reihe von Untersuchungen zu Gedächtnisverfälschungen. Seit den 1990er-Jahren wurden Menschen falsche Kindheitserinnerungen an angebliche Bootsfahrten, Hundeangriffe oder Kaufhausbesuche, bei denen sie sich verlaufen haben sollen, eingepflanzt. Seither weiß man, dass das Gedächtnis nicht wie eine Schallplatte funktioniert, von der man immer wieder das gleiche Lied abspielen kann. Sondern dass Erinnerungen verblassen und verzerrt werden "und unter Umständen Erinnerungen entstehen können, die mit der Realität nichts zu tun haben“, wie die Psychologin Susanna Niehaus im KURIER-Gespräch erklärt.
Wie falsche Erinnerungen entstehen
Um sogenannte Scheinerinnerungen zu erzeugen, braucht es im Wesentlichen nur zwei Zutaten: eine Person in einer vulnerablen Situation und ein Umfeld, in dem Einfluss oder sozialer Druck ausgeübt wird oder in dem das Gegenüber Autorität ausstrahlt. Das kann eine Studiensituation sein, aber auch ein Verhör oder eine Psychotherapie. Manipulierte Bilder sind nicht notwendig. Suggestive Fragen können genügen, um falsche Erinnerungen hervorzurufen, vor allem, wenn das angebliche Ereignis lange zurückliegt.
Susanna Niehaus kommt zum Einsatz, wenn falsche Erinnerungen strafrechtlich relevant werden. Die Professorin an der Fachhochschule Luzern arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Gutachterin in Sexualstrafverfahren. Brisanz bekam das Thema in den 1990er-Jahren, als plötzlich vermehrt Menschen nach Therapiesitzungen behaupteten, in ihrer Kindheit rituelle sexuelle Gewalt erfahren zu haben. In Deutschland sorgten etwa die Wormser Prozesse für Aufsehen (siehe Infobox). "Am Ende hat man festgestellt, dass es massive Beeinflussungen der Kinder gegeben hat und die Vorwürfe nicht haltbar waren", so Niehaus.
Menschen erinnern sich an traumatische Ereignisse
Die "Memory Wars“, also die Frage, ob sich Traumata verdrängen lassen, tobten. Heute weiß man, dass sich Menschen in der Regel besonders gut an solche einschneidenden Ereignisse erinnern. Studien mit Holocaust-Überlebenden oder Mordzeugen zeigen, dass derartige Erfahrungen nicht verdrängt werden. Im Gegenteil: "Viel häufiger leiden die Menschen darunter, dass sie nicht vergessen können“, sagt die Gedächtnisforscherin Aileen Oeberst, die an der Fernuniversität Hagen zum Thema forscht. "Es gibt keine einzige Studie, die einen überzeugenden empirischen Beweis für Verdrängung liefert.“
Und doch ist das auf Sigmund Freud zurückgehende Konzept, traumatische Ereignisse würden im Unterbewusstsein warten und erst durch beharrliches Nachspüren aufgedeckt, noch weit verbreitet. In einer aktuellen Studie, die im Fachblatt Memory veröffentlicht wurde, gaben 78 Prozent von 258 befragten Psychotherapeuten an, dem Phänomen verdrängter Erinnerungen in ihrer Praxis bereits begegnet zu sein. 35 Prozent hätten schon einmal Techniken angewandt, um verschüttete Erinnerungen ans Licht zu bringen. Jeder fünfte Therapeut sieht dies sogar als seine explizite Aufgabe an.
Die Gedächtnisforscherin sieht das kritisch. "Es sollte nicht das Ziel einer Therapie sein, verschüttete Erinnerungen freizulegen. Die Gefahr, eine therapieinduzierte falsche Erinnerung zu erzeugen, ist sonst groß." Denn wie bei echten Traumata besteht auch bei Scheinerinnerungen die Gefahr eines lebenslangen Leidens. Traumafolgestörungen können sogar stärker ausgeprägt sein als bei realen Traumata.
Einmal entstanden, ist eine falsche Erinnerung zudem nicht mehr von einer echten zu unterscheiden. Oeberst, die kürzlich eine Auswertung von 24 Studien zum Thema veröffentlicht hat, schaut deshalb vor allem auf die Entwicklungskurve: "Bei wahren Erinnerungen kann man typischerweise sofort das ganze Ereignis beschreiben. Bei falschen erinnert man sich zunächst gar nicht oder nur sehr vage - und am Ende entsteht eine wahnsinnig detaillierte Schilderung komplexer Ereignisse.“
"Falsch verstandener Opferschutz"
Obwohl wissenschaftlich gut belegt, wird das Phänomen der Scheinerinnerungen gerade im Kontext von Missbrauchserfahrungen häufig kritisiert. Schnell wird der Vorwurf des Täterschutzes erhoben. Dabei gehe es nie darum, Opfern sexueller Gewalt das Erlebte abzusprechen, betont Niehaus. "Solche Vorwürfe lassen außer Acht, dass rechtspsychologische Erkenntnisse in Verfahren oft dazu beitragen, die Aussagen von Opfern zu stützen, wenn es sonst keine Beweise gibt.“ Und: "Es gibt Hunderte von Studien zu Scheinerinnerungen, und wir sehen hier ausgesprochen große Effektstärken. Das Phänomen in Frage zu stellen, ist falsch verstandener Opferschutz und gefährlich".
Die Expertinnen raten davon ab, nach vermeintlichen Traumata zu suchen, für die es keine Erinnerungsspuren gibt. Niehaus: "Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich bei der Suche an etwas erinnert, ist hoch, aber die Wahrscheinlichkeit, dass diese Erinnerung der Realität entspricht, ist sehr gering“. Und letztlich stelle sich auch die Frage, inwieweit das Wissen um ein vermeintliches Trauma einen Unterschied mache, erinnert Gedächtnisforscherin Oeberst. "Man muss sich auch fragen, ob ein Kindheitstrauma überhaupt helfen würde, mit aktuellen Problemen klarzukommen.“
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