In Österreich wird morgen über Lockerungen beraten. Manche Länder, darunter etwa Dänemark, haben trotz hoher Infektionszahlen bereits sämtliche Corona-Maßnahmen fallengelassen. Bei manchen sorgt der mögliche Wegfall der Zugangsregeln und des Tragens einer Maske allerdings für mulmige Gefühle. Viele Eltern von Risikokindern fühlen sich seit Beginn der Pandemie von der Politik vergessen und vernachlässigt. Sie versuchen ihre Kinder, die aus verschiedenen Gründen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-Verlauf haben, zu schützen.
Ein erhöhtes Risiko haben etwa Kinder mit Behinderungen oder Vorerkrankungen wie Herzerkrankungen, Lungenkrankheiten, Autoimmunkrankheiten, Diabetes, Adipositas und anderen. Ihre Eltern isolieren sich und ihre Kinder seit zwei Jahren, unterrichten sie zum Teil zuhause. Eine Familie aus dem deutschen Nordrhein-Westfalen, die anonym bleiben möchte, berichtet im Business Insider etwa von ihrem vierjährigen Sohn mit schwerem Herzfehler. Seit zwei Jahren ist er großteils zuhause, kein Besuch von Freunden, kein Kindergeburtstag, kein Kindergarten. Zu groß ist die Angst, dass der Bub an Covid erkrankt. "Im schlimmsten Fall würde das den Tod für meinen Sohn bedeuten", sagt seine Mutter. Er kämpfe gegen banale Erkältungen oder Magendarminfekte, die andere in seinem Alter nach wenigen Tagen überstanden haben, wochenlang, oft mit Sauerstoffunterstützung.
Familien im Ausnahmezustand
Die Familie ist nicht allein. Laut Studie des deutschen Robert-Koch-Instituts leiden elf Prozent aller Mädchen und 16 Prozent aller Jungen unter 17 Jahren an einer chronischen Erkrankung. Ihre Familien bezeichnen sich als "Schattenfamilien" – unter dem gleichnamigen Hashtag machen Betroffene nun auf ihre Situation aufmerksam. "Schattenfamilien sind Familien mit Kindern oder Eltern mit Vorerkrankungen. Deren Leben verläuft seit mehr als zwei Jahren im Ausnahmezustand. Leider finden sie in der Politik und den Medien kaum Gehör, auch weil die Energie oft fehlt“, schreibt die österreichische Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl auf Twitter.
Strobl ist selbst Mutter eines Risikokindes und startete am Sonntag einen Twitter-Space zum Thema, also eine Online-Diskussion, bei der sich Eltern und andere Interessierte live austauschten. Mehr als 8.000 Personen nahmen an der Gesprächsrunde teil, mehr als 25.000 haben sie bereits nachgehört.
Job aufgegeben
Ein deutscher Vater, der teilnahm, erzählte etwa, dass er seinen Job als Lehrer aufgeben musste, weil er sein Hochrisikokind zuhause nicht anstecken möchte. Auch andere Betroffene berichteten von ähnlichen Erfahrungen. Sie organisieren ihre Berufstätigkeit beispielsweise rund um das Homeschooling ihres Kindes oder haben ganz aufgehört zu arbeiten. Neben Eltern von Risikokindern sind Kinder von Risikoeltern ebenso Teil von Schattenfamilien. Auch sie müssen hinsichtlich sozialer Kontakte zurückstecken, um ihre besonders gefährdeten Eltern zu schützen.
Auf Twitter sind Schattenfamilien allerdings auch mit Anfeindungen konfrontiert. Vorausgegangen war eine Äußerung von Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien. Die Politikerin hatte auf Twitter geschrieben, dass Kinder mit Covid-19 sterben "und nur extrem selten wegen Covid-19“. Das hatte für heftige Reaktionen gesorgt und eine Grundsatzdiskussion ausgelöst. Viele werfen der Politikerin mangelnde Empathie vor und fordern eine Entschuldigung. Die blieb aber aus – Prien zog sich stattdessen von Twitter zurück. Kurz darauf entstand der Hashtag #Prienruecktritt.
Der deutsche Familienanwalt Thorsten Frühmark twitterte etwa: "Ein Schlag in das Gesicht von Eltern mit vorerkrankten Kindern, darauf hinzuweisen, dass Kinder nicht an, sondern mit Covid-19 sterben." Mediziner Christian Kröner schrieb: "Man darf Dissens haben, aber man darf nicht als Kulturministerin tote Kinder verhöhnen. Frau Prien, treten Sie zurück."
Demgegenüber stehen Maßnahmengegnerinnen und -gegner, die aggressive Anfeindungen gegen Vertreterinnen und Vertreter von Schattenfamilien äußern. "Wenn Querdenker wütend sind, dann begibt man sich auf die Ursachenforschung und will reden. Wenn Familien mit vorerkrankten Kindern wütend sind, dann werden sie gemaßregelt und sind schuld an der Spaltung der Gesellschaft. Alles klar", twitterte Strobl.
Unterstützung vonseiten des Staates erleben Schattenfamilien in Österreich und Deutschland kaum. Sie fühlen sich von der Politik und der Gesellschaft vernachlässigt. So auch die Familie des vierjährigen Bubens mit Herzfehler. Der Vater hat seinen Job aufgegeben, um sich um den kranken Sohn und seine beiden Schwestern zu kümmern. Auch sie gehen nicht in den Kindergarten, um ihren Bruder vor einer Infektion zu schützen. Nicht jeder könne sich aber leisten, auf ein Einkommen zu verzichten. Spezielle Unterstützung für Schattenfamilien gibt es nicht.
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