"Kinder haben zunehmend Angst vor dem Leben": Wie ein psychosoziales Projekt hilft
Eine Evaluierung des Projekts "Gesund aus der Krise" zeigt, dass die über die Initiative vermittelte psychosoziale Hilfe bei den Kindern ankommt.
"Kinder haben zunehmend Angst vor dem Leben", sagt Barbara Haid, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie (ÖBVP). Psychische Erkrankungen, die sich daraus entwickeln können, seien nicht nur zahlreicher, sondern auch komplexer geworden. "Wir sehen immer mehr schwere Verläufe."
Um Kinder in Krisen aufzufangen, wurde vor knapp fünf Jahren das Projekt "Gesund aus der Krise" ins Leben gerufen – eine Kooperation des Bundesverbandes Österreichischer PsychologInnen (BÖP) und des ÖBVP.
Ursprünglich entstand das Projekt als Reaktion auf die Pandemie und deren Folgen für die seelische Gesundheit junger Menschen. Seither wurde es mehrfach verlängert – zuletzt stellte das Gesundheitsministerium erneut über 35 Millionen Euro bereit. Damit ist die Finanzierung vorerst bis Juni 2027 gesichert. Zumindest teilweise können so bestehende Lücken in der psychosozialen Regelversorgung geschlossen werden.
Schnelle, wohnortnahe und hochwertige Behandlung
Herzstück des Projekts ist eine schnelle, wohnortnahe und hochwertige Beratung und Behandlung, angeboten von Psychologinnen, Psychotherapeuten und Musiktherapeuten. Seit 2022 haben rund 55.000 Kinder und Jugendliche Zugang zu psychologischer Unterstützung erhalten. Im Durchschnitt umfassten die Therapien etwa elf Einheiten.
Die positiven Effekte belegt nun eine Untersuchung der Uni Innsbruck. 93 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen gaben an, sich nach der Behandlung besser zu fühlen. "Hinter dieser Zahl stehen Tausende Kinder, die wieder besser schlafen, sich besser konzentrieren können und wieder zuversichtlicher durchs Leben gehen – und ihre Familien, die aufatmen können", erläutert Gesundheitsministerin Korinna Schumann (SPÖ).
Sowohl psychische als auch physische Beschwerden gingen bei den Betroffenen deutlich zurück. "Wir haben einen klaren Mental-Health-Effekt erzielt, akut – und wie wir nun sehen – auch nachhaltig", fasst BÖP-Präsidentin Beate Wimmer-Puchinger zusammen.
Kinder und Familien stärken
Die Maßnahmen stärken nicht nur die Kinder, sondern auch das Familiensystem: Knapp 90 Prozent der Bezugspersonen berichteten nach Abschluss der Therapie von einer deutlichen Verbesserung des Zustands ihrer Kinder. 86 Prozent der Eltern fühlten sich besser auf künftige Krisen vorbereitet.
Laut Bericht erreicht das Projekt zunehmend auch Buben: Lag ihr Anteil 2022 noch bei 29 Prozent, ist er inzwischen auf 41 Prozent gestiegen. "Das ist besonders erfreulich, denn gerade für das männliche Geschlecht ist das Darüberreden vielfach immer noch schwierig", so Wimmer-Puchinger.
Angststörungen, psychosomatische Beschwerden, Depressionen sowie Verhaltens- und emotionale Störungen zählen zu den am häufigsten behandelten Krankheitsbildern. Die Diagnosen verdeutlichen, vor welchen Herausforderungen Kinder und Jugendliche heute stehen, sagt Haid: "Überforderung, innere Unruhe, Erschöpfung und Perspektivlosigkeit – oft begleitet von erheblichem Leistungsdruck."
Zwar sei nicht jedes Stimmungstief eine Depression, nicht jeder Liebeskummer eine krankheitswertige Störung, "aber wir sehen eine deutliche Verschärfung bei Suchterkrankungen, Essstörungen, Belastungsreaktionen und Verhaltensauffälligkeiten".
- Die Behandlungen werden von insgesamt 1.600 Behandlerinnen und Behandlern und in 28 Sprachen angeboten.
- Die Zuweisung erfolgt unter anderem über Kinderärztinnen, Schulpsychologen, Jugendämter, Jugendeinrichtungen oder Hilfshotlines.
- Kinder und Jugendliche bis 21 Jahre können sich – ebenso wie ihre Eltern oder andere Obsorgeberechtigte – direkt auf der Website gesundausderkrise.at anmelden. Danach wird dann innerhalb weniger Werktage eine Psychologin oder ein Psychotherapeut vermittelt.
- Die Vermittlung an eine Psychologin oder einen Psychotherapeuten erfolgt innerhalb weniger Werktage.
Soziale Medien als Brandbeschleuniger
Die Krisen werden durch soziale Medien befeuert, schildern Wimmer-Puchinger und Haid einhellig. "Viele Jugendliche verbringen täglich Unmengen an Zeit vor dem Bildschirm und können die negativen Folgen ihres Konsums nicht abschätzen", sagt Haid. Den Eltern kommt hier eine wichtige Regulierungs- und Vorbildfunktion zu.
"Soziale Medien können psychische Unsicherheiten verstärken. Sie versetzen junge Menschen in eine permanente Alarmbereitschaft, die durch die ungefilterten Inhalte, die auf den Plattformen auf sie einprasseln, ausgelöst wird", so Haid weiter. "Das Tablet im Kinderwagen stellt das Kind vielleicht ruhig, der Preis dafür ist aber fatal."
Chancengleichheit fördern
Schon vor der Pandemie hätten Fachleute darauf hingewiesen, dass sich psychische Belastungen bei Kindern zuspitzen, betont Ministerin Schumann. Auch die jüngste Vergangenheit sei für junge Menschen fordernd. "Multiple Krisen lagern sich schichtenweise aufeinander." Deswegen sei es wesentlich, "dass mit ‚Gesund aus der Krise‘ verlässliche Strukturen geschaffen wurden, die Zugang zu Unterstützung ermöglichen."
Der Bericht zeigt auch, dass mit dem Projekt insbesondere jene Kinder erreicht werden, die sonst kaum Zugang zu psychosozialer Versorgung finden. Schumann: "Die Hälfte der Familien der betreuten Kinder hätte sich eine Behandlung nicht leisten können."
Psychische Gesundheit hängt stark von den sozialen Verhältnissen ab, in denen man aufwächst und lebt. "Kinder aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien oder mit Migrationshintergrund haben es in dieser Hinsicht schwerer", so Schumann.
"Jeder Euro, den wir investieren, spart Folgekosten"
Der Bedarf an psychologisch-psychotherapeutischer Unterstützung ist jedenfalls ungebrochen. Die hohe Nachfrage führte im Projekt zeitweise sogar zu Anmeldepausen.
Die Gesundheitsministerin zeigt sich bezüglich einer längerfristigen Finanzierung zuversichtlich: "Wir wissen um den Bedarf, und wir werden mit den Mitteln des Gesundheitsreformfonds, den wir nächste Woche im Parlament beschließen, Geld zur Verfügung stellen, um die Versorgung weiterzuführen und ausbauen zu können. Jeder Euro, den wir investieren, spart Folgekosten im Gesundheits- und Sozialsystem."
Haid appelliert abschließend: "Die Angst unserer Kinder ist real. Und es ist unsere Aufgabe, ihnen Perspektiven zu geben."
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