Wie sieht die aktuelle Situation bei den Atemwegsinfekten aus?
„Wer dieser Tage einen Atemwegsinfekt hat, ist mit größter Wahrscheinlichkeit mit dem neuen Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert.“ Das sagt die Virologin Judith Aberle angesichts der jüngsten Daten des SARS-CoV-2-Überwachungssystems des Zentrums für Virologie der MedUni Wien. Ausgewählte Ärztinnen und Ärzte aus allen Bundesländern sowie mehrere Spitalsabteilungen schicken von Patienten mit Symptomen von Atemwegskrankheiten (rinnende Nase, Husten, Niesen) Schleimhautabstriche aus Nase und Rachen an das Zentrum.
Zwar gingen in der vergangenen Kalenderwoche nur 61 Proben ein. Aber die Auswertung war eindeutig: Bei 41 Prozent konnte SARS-CoV-2 nachgewiesen werden, bei acht Prozent Schnupfenviren, Enteroviren (Erreger von „Sommergrippe“) bei drei Prozent und lediglich ein Reiserückkehrer war mit einem Influenzavirus infiziert.
Welche Corona-Variante ist derzeit dominant?
Derzeit werden praktisch alle Infektionen von Omikron-Subvarianten der XBB-Familie verursacht. Dazu gehört auch der Subtyp EG.5. mit dem klingenden Spitznamen Eris (nach der griechischen Göttin der Zwietracht), der in den vergangenen Wochen für Aufsehen gesorgt hat. „Das ist die dominierende Subvariante derzeit.“
➤ Mehr dazu: Neue Corona-Variante: Bringt "Eris" die Pandemie zurück?
Sie ist ansteckender als andere Omikron-Subvarianten und setzt sich deshalb durch. „Die zelluläre Immunantwort verhindert in den meisten Fällen schwere Erkrankungen.“ Und auch die an Omikron-XBB.1.5 angepassten Impfstoffe, die voraussichtlich im Laufe des Septembers zur Verfügung stehen werden, dürften gut vor Eris schützen: Erste Daten zeigen, dass auch gegen diese Subvariante neutralisierende Antikörper gebildet werden, betont Virologin Aberle von der MedUni Wien.
Was weiß man über die ganz neue Corona-Variante BA.2.86?
"Hier sind noch viele Fragen offen", sagt Aberle. Diese ganz neue Corona-Variante BA.2.86, ist – bis jetzt in geringer Zahl – bereits in mehreren Ländern nachgewiesen worden (etwa auch in der Schweiz). In Österreich gibt es vorerst noch keinen Nachweis.
„Diese Variante hat mehr als 30 Mutationen angesammelt und ist damit genetisch von den derzeit dominierenden Omikron-Subvarianten in etwa so weit entfernt wie die Omikron-Variante vom ursprünglichen Wuhan-Virus“, erklärt Aberle.
Das bedeutet: „Höchstwahrscheinlich entkommt diese Variante den durch bisherige Infektionen und Impfungen gebildeten Antikörpern.“ Zwar sei auch gegen BA.2.86 dank der Abwehrzellen in den meisten Fällen mit einem Schutz gegen schwere Krankheitsverläufe zu rechnen, aber diese Abwehrzellen schützen nicht vor einer Infektion.
Vieles ist zu BA.2.86 aber noch offen: Wird sich dies Variante gegen die derzeit dominierenden durchsetzen können? Mit welchen Symptomen verlaufen Infektionen? Und wie gut ist man durch bisherige Impfungen und Infektionen geschützt?
Noch ist BA.2.86 laut WHO-Einstufung eine „Variante unter Beobachtung“ und keine „besorgniserregende Variante“ – dazu könnte es erst dann kommen, wenn sie sich stark ausbreitet. Die WHO warnt generell davor, die Corona-Situation zu unterschätzen, wie die führende WHO-Spezialistin Maria Van Kerkhove kürzlich auf X (vormals Twitter) schrieb (siehe das Posting oben).
Was bedeutet BA.2.86 jetzt für die Impfungen und das Verhalten im Herbst?
„Das Nationale Impfgremium empfiehlt für Risikogruppen und ältere Menschen im Herbst eine Auffrischungsimpfung mit den neuen Impfstoffen. Aber grundsätzlich kann sich jeder impfen lassen“, sagt Aberle. FFP2-Masken und Raumluftfilter tragen wesentlich dazu bei, das Infektionsrisiko zu reduzieren. „Wir sollten uns mit der Tatsache abfinden, dass wir immer wieder Infektionswellen haben werden.“ Wer Erkältungssymptome hat, sollte auf jeden Fall zuhause bleiben.
Wie sehen internationale Expertinnen und Experten die Situation?
Die Virologin Isabelle Eckerle, Professorin am Zentrum für Neuartige Viruserkrankungen der Universitätskliniken Genf, sagte dem Nachrichtenmagazin Spiegel, dass noch offen sei, ob BA.2.86 besser übertragbar ist als bisherige Varianten und diese dadurch überholen kann. "Meine Einschätzung ist: Ja, wir werden bald eine Zunahme sehen", sagte Eckerle. Dann könnte man BA. 2.86 mit dem nächsten Buchstaben im griechischen Alphabet benennen, Pi.
Clemens Wendtner, Leiter der Infektiologie und Chefarzt an der München-Klinik Schwabing, warnt in der Süddeutschen Zeitung, für ihn sehe BA.2.86 "nach einer ausgewachsenen Immunflucht-Variante" aus. Geimpfte und ehemals Infizierte könnte nur eine eingeschränkte Immunität gegen diesen Subtyp haben.
Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hingegen ruft angesichts der neuen Corona-Variante BA.2.86 zu mehr Gelassenheit auf. "Ich halte nichts davon, über jede Variante Furchtappelle auszustoßen. Denn die Grundimmunität gegen Corona haben wir und die geht nicht verloren", sagte Streeck der Rheinischen Post. Aber auch er geht davon aus, dass die Infektionszahlen im Herbst und Winter nach oben gehen werden.
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