Lewis Capaldi hat Tics: Warum der Umgang mit Tourette schwierig ist
Manche Kindheitserinnerungen sind auch im Erwachsenenalter noch sehr präsent. An das gemeinsame Kuchenbacken mit ihrer Mutter erinnert sich Elisabeth Schön zum Beispiel noch genau. Während sie die Zutaten zu einer geschmeidigen Masse rührte, überkamen Elisabeth Schön krampfartige Zuckungen. "Als Kind hatte ich meine Tics vor allem im Stehen und in Wartesituationen", erinnert sich die heute 47-Jährige.
Damit zu leben war nicht immer leicht. Dennoch hat Elisabeth Schön Wege gefunden, mit ihrem Schicksal umzugehen. Und sie ist nicht allein.
Manchmal sind die Tics unterdrückbar
Elisabeth Schön hat das Tourette-Syndrom, eine spezielle Form der Ticstörung. Dabei treten sowohl unwillkürliche Bewegungen (motorische Tics) als auch Lautäußerungen (vokale Tics) auf. Elisabeth Schön vergleicht es am liebsten mit "Schluckauf, oder, wenn man niesen muss und es nicht zurückhalten kann". Nicht immer, aber meistens gehe den Tics dieses Dranggefühl voraus. Manchmal seien sie unterdrückbar, manchmal nicht.
Die Diagnose wurde schon in ihrer Kindheit gestellt. Tatsächlich treten Tics im Kindes- und Jugendalter häufig auf. Jedes achte Kind oder Jugendlicher durchlebt Phasen mit einem Tic, Buben drei- bis viermal so häufig wie Mädchen. Oft verschwinden diese wieder. Nicht immer sind weitere Therapiemaßnahmen notwendig. An einer behandlungsbedürftigen Tic-Störung leiden nur etwa 0,5 bis ein Prozent der Menschen. Bei Elisabeth Schön wurde der Schweregrad der Erkrankung verkannt. „Bis zur Pubertät funktionierte ich mit den Tics sehr gut. Viele Schulkollegen wussten nicht einmal, dass ich sie habe“, erzählt sie. Mit zunehmendem Alter wurden sie schlimmer. Elisabeth Schön musste ihre Ausbildung zur Krankenpflegerin abbrechen. "Ich versuchte, die Tics zu unterdrücken, es gelang mir immer schlechter. Irgendwann stand ich unter Dauerstrom, ich hielt der Belastung nicht mehr stand."
Prominente wagen offenen Umgang
Von diesem kräftezehrenden "Dauerstrom" weiß auch Lewis Capaldi zu berichten. Auch bei dem schottischen Sänger bahnten sich leichte Tics bereits im Kindesalter ihren Weg. Anfang zwanzig gelang Capaldi der Durchbruch als Musiker. Der damit einhergehende Druck lastete, wie er in einer kürzlich auf Netflix erschienenen Doku offenbart, schwer auf seinen Schultern. Wie Elisabeth Schön konnte auch er die Tics irgendwann nicht mehr bändigen. Die Tics, vor allem aber Depressionen und Angstzustände, zwangen Capaldi zu einer längeren Auszeit.
Er kämpfe sich zurück auf die Bühne, wo er immer wieder für das Publikum sichtbar mit seinen Tics haderte. Erst kürzlich musste er aber erneut Konzerte absagen.
Depressionen, aber auch Zwangsgedanken, kennt auch Elisabeth Schön. Untersuchungen belegen, dass bei 80 bis 90 Prozent aller Patientinnen und Patienten mit Tourette-Syndrom weitere psychische Symptome bestehen. "Am häufigsten werden begleitend Zwangserkrankungen, Depressionen oder ADHS beobachtet", weiß Christoph Kraus von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der MedUni Wien. Auch andere psychiatrische Erkrankungen, die, wie beispielsweise Autismus, hohe Erblichkeitsraten haben, treten vermehrt auf.
Capaldi ist nicht der einzige Prominente, der sich zu der Erkrankung bekennt. Erst vergangenes Jahr machte etwa US-Sängerin Billie Eilish öffentlich, dass sie Tourette hat. Auch der ehemalige Fußball-Star David Beckham lebt damit. Dass bekannte Persönlichkeiten offen mit der Erkrankung umgehen, sieht Elisabeth Schön zwiegespalten. "Man muss den Leuten schon erklären, was bei den Tics genau passiert, denn viele ängstigt das. Es ist die beste Aufklärung, wenn Betroffene offen damit umgehen und sich dafür nicht schämen." Wenn sie selbst etwa in der Öffentlichkeit laut schreien müsse, "sage ich: 'Entschuldigung, das sind nur Tics, nichts Gefährliches!'".
Fake-Tourette macht die Runde
Tatsächlich scheinen Tics aber auch eine Art ansteckende Wirkung zu haben, betont Schön. Durch das mediale Interesse und das Zurschaustellen der eigenen Tics auf Social Media seien labile Jugendliche gefährdet, touretteähnliche Bewegungsstörungen zu entwickeln. Während der Corona-Pandemie nahm etwa die Anzahl an jungen Menschen, die mit unwillkürlichen Zuckungen und Lautäußerungen neurologische Kliniken aufsuchten, deutlich zu. Viele von ihnen sahen sich im Internet Videos von Personen an, die verblüffend ähnliche Symptome zeigen – etwa auf Youtube oder TikTok.
Für Ärztinnen und Ärzte stellt die Überlappung von Tourette und den funktionellen Beschwerden mitunter eine diagnostische Herausforderung dar. "Idealerweise erfolgt die Diagnose durch ein psychiatrisches Interview, eine genaue Anamnese und die Auskunft von Angehörigen", sagt Kraus.
Im Alltag werden Betroffene oft auf bestimmte Verhaltensweisen reduziert: fluchen, grunzen, zucken, zwinkern oder obszöne Gesten zeigen. Ein zumindest teilweise verzerrtes Bild findet Elisabeth Schön. "Das Tourette-Syndrom wird oft als die Schimpfkrankheit bezeichnet. Ich kenne in Österreich vielleicht fünf Betroffene, die an Koprolalie (Neigung zum Aussprechen obszöner Wörter, Anm. d. Red.) leiden."
Wurzeln des Syndroms sind vielfältig
Die genauen Ursachen des Syndroms sind unbekannt. "Es ist eine polygenetische Erkrankung mit hoher Erblichkeitsrate, das heißt, dass nicht einzelne, sondern viele vererbte genetische Veränderungen zu einer Krankheitsausprägung führen", sagt Kraus, der die Ambulanz für Zwangserkrankung, Tourette-Syndrom und Tics am AKH Wien leitet. "Das führt zu einer Änderung der Aktivität neuronaler Netzwerke, die repetitive Bewegungen, Wörter oder Silben verursachen. Dabei sind auch Neurotransmitter vor allem in tiefem Gehirnregionen wie den Basalganglien verändert, und tragen bei schweren Verläufen zu fehlgeleiteter Informationsverarbeitung der Nervenzellen bei."
Eine vollständige Heilung gibt es derzeit nicht. "Durch die richtige Behandlung – sie besteht im Wesentlichen aus einer Psychotherapie und je nach Schweregrad einer pharmakologischen Behandlung – kann der Verlauf aber deutlich gebessert werden", sagt Kraus. Die Tics sind dann kaum mehr vorhanden. Auch Sport, Meditation oder Musik können die Lebensqualität steigern.
Wien
Ambulanz für Zwangserkrankung, Tourette-Syndrom und Tics am AKH Wien
Kinder- und Jugendpsychiatrisches Ambulatorium mit Tagesklinik Kölblgasse
Linz
Neuromedizinisches Ambulanzzentrum am Neuromed Campus Linz
Graz
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde
Tirol
Gemeinschaftspraxis Werner Poewe & Sibylle Poewe in Innsbruck
Weitere Infos unter: tourette.at/Aerzteliste/
Elektrische Impulse können lindernd wirken
Auch an neuen Behandlungsansätzen wird geforscht. So soll etwa Forschungen aus Großbritannien zufolge ein Armband, das elektrische Impulse abgibt, die Häufigkeit und Ausgeprägtheit der Tics reduzieren. Konkret wird der Medianusnervs am Handgelenk stimuliert, was wiederum neuronale Oszillationen im Gehirn erzeugt, die wohl mit der Unterdrückung von Bewegungen verbunden sind. Experte Kraus sieht in der "elektrischen Stimulation einzelner Nerven im Körperbereich als auch des Gehirns ein vielversprechendes Zukunftsfeld". Klinisch sei die Methode aber "aktuell zu wenig erprobt".
Nach mehreren fehlgeschlagenen medikamentösen Therapien ist Elisabeth Schön heute gut eingestellt. Die angehende Psychotherapeutin, die auch stellvertretende Leiterin der Österreichischen Tourette Gesellschaft ist, hat ihre Tics "momentan gut im Griff". "Für andere sind sie eigentlich nicht mehr sichtbar", sagt sie.
Dass ihre Tics äußerlich kaum mehr erkennbar sind, hat mit einer intensiven Beschäftigung mit ihrem Inneren zu tun. "Ich bin, nicht zuletzt durch meine Ausbildung, menschlich sehr gereift, habe ein besseres Körperbewusstsein und psychisches Gleichgewicht."
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