Jahrzehntelang gefürchtet, heute fast vergessen: Polio kehrt zurück
Polio-Viren, die in zahlreichen Ländern als ausgerottet gelten, sind zurück. Erst vergangene Woche setzte die WHO die USA auf die Liste jener Länder, in denen das Virus zirkuliert. Seit 1979 hatte es bis auf eine Ausnahme im Jahr 2013 keinen Fall der gefürchteten Kinderlähmung mehr gegeben. Der amerikanische Kontinent war seit 1994 poliofrei.
Derartige einzelne Fälle sind meist auf Reisen in Länder, in denen das Virus verbreitet ist, rückführbar. Im Juli wurde die als Poliomyelitis bezeichnete Krankheit im Bundesstaat New York aber bei einem jungen Mann nachgewiesen, der nicht im Ausland war. Er litt an Lähmungen der Beine sowie Fieber, Nackensteife, Rückenschmerzen und Übelkeit. Er war auch nicht geimpft. Zudem wurden im Abwasser New Yorks Polio-Viren entdeckt.
Auch in Israel ist bereits im März ein Fall von Kinderlähmung bei einem dreijährigen Mädchen aufgetreten. 30 Jahre galt die Krankheit davor als ausgerottet. Im Sommer schlugen dann die Londoner Behörden Alarm: In Abwasserproben wurde erstmals seit den 1980er Jahren Polio entdeckt.
Wie gefährlich ist dieses Auftreten einzelner Fälle sowie der Viren im Abwasser? "Glücklicherweise hat Polio durch die Impfung massiv an Schrecken verloren. Was gerade in London oder New York geschieht, sind Infektionen, die bei den meisten Menschen asymptomatisch verlaufen. Sie sind aber für jene eine Gefahr, die nicht geimpft sind", sagt Virologin Monika Redlberger-Fritz von der MedUni Wien. Denn: Wer gegen Polio geimpft ist, kann zwar selbst nicht erkranken, das Virus aber weitergeben.
Unheilbare Lähmungen
In schlimmen Fällen kann es zu anhaltenden Lähmungen kommen. Sie sind sehr selten – etwa ein Prozent aller Infizierten sind betroffen – beeinträchtigen aber ein Leben lang. Wird die Atemmuskulatur gelähmt, kann die Erkrankung auch tödlich verlaufen, eine Heilung gibt es nicht. Unklar ist, wie stark das Virus tatsächlich verbreitet ist, da meist nur schwere Verläufe erfasst werden.
Die neue Verbreitung des Virus hat vor allem zwei Gründe, die miteinander zusammenhängen:
- Die allgemeine Impfbereitschaft ist im Lauf der Pandemie in zahlreichen Ländern gesunken. Auch in Österreich sind die Durchimpfungsraten sämtlicher Kinderimpfungen, dazu zählt auch die Sechsfachimpfung, in der die Polio-Impfung inkludiert ist, deutlich zurückgegangen.
- In einigen ärmeren Regionen der Welt wird aus Kosten- und Ressourcengründen nach wie vor ein Lebendimpfstoff eingesetzt und als Schluckimpfung verabreicht. "Beim Lebendimpfstoff kann das Impfvirus, ein abgeschwächtes Polio-Virus, in vereinzelten Fällen mutieren und weitergegeben werden. Geimpfte Personen sind geschützt, bei ihnen verläuft eine Infektion asymptomatisch. Sie können das Virus aber auf Ungeimpfte übertragen, bei denen es zu Symptomen kommen kann", erklärt Redlberger-Fritz.
Laboranalysen zeigten, dass die im Londoner und New Yorker Abwasser gefundenen Viren solche impfstoffabgeleitete Polioviren waren. In den USA und in Großbritannien treffen die Viren auf eine gesunkene Polio-Durchimpfungsrate, wodurch es zu Erkrankungen und einer Ausbreitung kommen kann. Je mehr Menschen ungeimpft sind, desto mehr können sich die Viren ausbreiten, genetisch verändern und symptomatische Erkrankungen hervorrufen – auch die jahrzehntelang gefürchteten Lähmungen, die heute fast schon in Vergessenheit geraten sind. Eine Übertragung durch den Totimpfstoff ist nicht möglich.
Impfkampagnen gestartet
Übertragen werden die Viren hauptsächlich über kontaminierte Fäkalien, etwa durch Schmierinfektion oder verunreinigtes Wasser. Das ursprüngliche Poliovirus, der Wildtyp, kommt nur noch in zwei Ländern vor: Afghanistan und Pakistan. Vereinzelt wurde es zuletzt in Mosambik und Malawi nachgewiesen. Dies ist auf ein Impfprogramm der WHO zurückzuführen, das seit 1988 weltweit läuft. Nun intensivieren auch westliche Länder, darunter die USA und Grobritannien, wieder Polio-Impfkampagnen für Kinder. Auch in Österreich wäre eine Rückkehr von Polio möglich. Bisher wurden keine Erkrankungen oder Infektionen festgestellt. Regelmäßige Abwasseruntersuchungen auf Polio gibt es nicht. Redlberger-Fritz: "Umso wichtiger ist es, Impfungen nicht auszulassen und bei Kindern auf die Auffrischung zu achten."
Kommentare