Polioviren in London: Kinderlähmung zurück in Europa
Sie gilt seit Jahrzehnten als ausgerottet, nun ist sie wieder da: Polio, gut bekannt als Kinderlähmung. Bis zur Einführung des Impfstoffes ab 1954 war die Krankheit weltweit gefürchtet, da sie in schlimmen Fällen zu anhaltenden Lähmungen bei Kindern führen kann. Diese sind sehr selten – etwa 0,5 Prozent aller Infizierten sind betroffen – beeinträchtigen Menschen aber ihr Leben lang. Die Erkrankung kann auch tödlich verlaufen. Tausende Kinder weltweit starben jährlich daran oder entwickelten bleibende Lähmungen, meist asymmetrisch an Bein-, Arm-, Bauch-, Brustkorb oder Augenmuskeln.
Dank umfassender Impfprogramme konnte Polio in vielen Regionen der Welt zurückgedrängt werden, der amerikanische Kontinent war seit 1994 poliofrei, der westpazifische Raum seit dem Jahr 2000. In Europa wurden laut WHO ab 2002 keine Viren mehr nachgewiesen. Das ändert sich allerdings derzeit. Im Lauf der Pandemie fanden viele Routineimpfungen, zu denen auch Polio gehört, nicht statt. Auch durch Migrationsbewegungen sowie Konflikte breiten sich die Viren wieder verstärkt aus.
London: Viren im Abwasser
Aktuell wurden in London 116 Polioviren in 19 Abwasserproben identifiziert, wie die britische Gesundheitsbehörde UK Health Security Agency berichtet. Bereits im Juni hatte die Behörde Alarm geschlagen, als erstmals Polioviren in Proben entdeckt wurden. Die seitdem gefundenen Poliovirus-Konzentrationen und die genetische Vielfalt deuteten darauf hin, dass die Übertragung in einer Reihe von Londoner Bezirken stattfand. Es ist das erste Mal seit den 1980er Jahren, dass die Viren in der britischen Hauptstadt auftreten.
Um einem möglichen Ausbruch zuvor zu kommen, startete Großbritannien eine Impfkampagne für Kinder unter zehn Jahren. Die Impfraten in London sind unterschiedlich – sie liegen aber unter der 95-prozentigen Durchimpfungsrate, die laut WHO erforderlich ist, um Polio unter Kontrolle zu halten.
USA: Lähmungsfall im Juli
Auch in den USA wurde Ende Juli ein Poliofall nachgewiesen, bei dem der Betroffene Lähmungen entwickelte. Die ungeimpfte Person infizierte sich, wahrscheinlich über eine mit einem Lebendimpfstoff geimpfte Person. Lebendimpfstoffe gegen Polio werden in vielen Ländern der Welt nicht mehr verabreicht, da Geimpfte das Virus für ein paar Wochen über den Stuhl ausscheiden und andere anstecken können. Werden über diesen Weg Personen infiziert, entwickeln sie keine Symptome, sondern bauen – wie die eigentlich geimpfte Person selbst – einen Schutz auf.
Können die Impfviren aber über einen längeren Zeitraum zirkulieren, etwa, weil sehr viele Menschen einer Bevölkerung ungeimpft sind, können sie sich genetisch verändern, also mutieren und eine symptomatische Erkrankung hervorrufen. Personen, die vollständig gegen Polio geimpft sind, sind auch vor diesen Polio-Varianten geschützt. Dies gilt aber nicht für Ungeimpfte.
Derartige impfstoffähnliche Viren wurden auch im Londoner Abwasser gefunden. Sie treten nur auf, wenn ein bestimmter oral verabreichter Lebendimpfstoff verwendet wird. Dieser wird seit Jahren in vielen Ländern nicht mehr eingesetzt, auch nicht in Großbritannien, weshalb davon ausgegangen wird, dass die Viren aus dem Ausland eingeschleppt wurden.
Nur noch inaktivierte Impfstoffe, aber nicht überall
Der Fall in den USA, bei dem es zu den gefürchteten Lähmungen kam, ließ sich ebenfalls auf den in Amerika nicht mehr verwendeten Lebendimpfstoff zurückführen. Er ist zudem mit den in London gefundenen Viren genetisch verbunden. In den meisten Ländern, darunter auch Österreich, werden statt Lebendimpfstoffen nur noch Impfstoffe mit inaktiviertem Polio-Virus verabreicht. Die oralen Lebendimpfstoffe sind aber in vielen Ländern nach wie vor im Einsatz.
Eine Heilung gegen die Infektionskrankheit gibt es bisher nicht. Die Viren werden hauptsächlich über kontaminierte Fäkalien übertragen – etwa durch Schmierinfektion oder verunreinigtes Wasser.
Die Gefahr der im Abwasser zirkulierenden Polioviren in London wird für die Bevölkerung als gering eingeschätzt, da die meisten Menschen geimpft sind oder werden. Allerdings sind die Impfraten unterhalb der optimalen Werte, um eine Ausbreitung zu verhindern.
International war Polio längere Zeit auf Pakistan und Afghanistan begrenzt – mit einer Handvoll Fälle jährlich. Afrika war 2020 für poliofrei erklärt worden, heuer wurden aber bereits Fälle in Malawi und Mosambik gemeldet, vermutlich eingeschleppt aus Pakistan. "In einigen Regionen sind Kinder nun einem höheren Risiko durch Infektionen wie Polio ausgesetzt. Dadurch steigt auch das Risiko, dass Polio sich international wieder ausbreitetet", sagte Oliver Rosenbauer von der Polio-Ausrottungsinitiative der WHO im Juni anlässlich des 20. Jahrestages, an dem Europa für poliofrei erklärt wurde.
Kommentare