Ist Genuss egoistisch?

Erfüllt leben: Ist Genuss egoistisch?
Wie kann man sich in einer krisengeschüttelten Zeit wie heute dem Genuss hingeben? Ist das nicht ziemlich egoistisch? Es gibt doch Wichtigeres zu tun! Solche Überlegungen höre ich öfters – und kann sie teilweise nachempfinden. Gleichzeitig ist Genuss eine der 26 Sinnquellen, die wir in der Forschung identifiziert haben. Genuss kann offenbar mehr sein als Hedonismus, Oberflächlichkeit oder Egoismus.
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Was kann man tun?
Ich bin in meinem Leben oft umgezogen. Ich habe in Deutschland, Großbritannien und Norwegen gelebt – und auch eine lange Zeit in Österreich. Zum Thema Genuss habe ich hier viel gelernt. Die Österreicherinnen und Österreicher, die ich kenne, genießen Unterschiedliches: die Natur, gutes Essen, Kunst und Kultur, Gemeinschaft. Neben allem Herausfordernden haben sie intensive Freude an dem, was ist. Ebendies ist die Definition von „genießen“: sich wohlfühlen bei etwas, Freude an etwas empfinden. Die Fähigkeit zu genießen ist in uns allen angelegt. Wir haben das Potenzial, uns an etwas zu erfreuen. Doch diese Voraussetzung wird nicht automatisch zur Realität. Sie braucht Übung.
Müssen wir denn alles zu einer Leistung erheben? Gibt es nicht schon zu viel Leistungsdruck in unserer Gesellschaft? Und jetzt auch noch den Genuss damit belästigen? Nein, es geht hier nicht darum, ein Ziel zu erreichen, sich messen zu lassen. Es geht darum zu verstehen, wie Genuss entsteht. Dass man ihn nicht kaufen kann. Dass er nicht einfach da ist, wenn uns die Mittel dazu zur Verfügung stehen. Dass er auf einer grundlegenden Haltung beruht, die man kultivieren kann – diese heißt Dankbarkeit.
Ein US-amerikanisches Forschungsteam hat belegt, dass Menschen mit einer dankbaren Grundhaltung Monate später deutlich mehr momentane Freude und Genuss erlebten als andere. Gleichzeitig fanden sich Belege für die andere Wirkrichtung: Wer sich an mehr Dingen erfreute, berichtete auch mehr Dankbarkeit. Die Autoren sprechen von einer „faszinierenden Aufwärtsspirale zwischen Dankbarkeit und Freude,“ die zu unserem allgemeinen Wohlbefinden beiträgt. Dankbarkeit kann an eine höhere Macht gerichtet sein oder ganz säkular daherkommen. Ich kann dem Leben dankbar sein, der Natur, anderen Menschen. Dahinter steht die Erfahrung, dass da etwas Gutes oder Schönes ist, an dem ich mich erfreue – und dass dessen Anwesenheit nicht selbstverständlich ist.
Dabei tritt ein interessanter psychologischer Effekt in Kraft: Dinge, die wir als selbstverständlich, als „normal“ und uns zustehend betrachten, rufen weniger Freude hervor. Wir freuen uns mehr, wenn uns etwas überrascht, wenn etwas besser ist als erwartet, wenn wir uns nicht genau erklären können, warum etwas eingetreten ist. Das wiederum mag erklären, warum die Philosophie seit Aristoteles Genuss immer wieder mit Mäßigung in Verbindung bringt. Ernähre ich mich täglich von exklusiver Küche, dann wird Genuss zur Selbstverständlichkeit und verliert an Intensität. Die Einsamkeit, die ich im Urlaub genieße, wird zur Herausforderung, wenn sie alltäglich ist. Genussmittel schenken keine Freude mehr, wenn wir uns nicht bewusst für sie entscheiden, sondern in Abhängigkeit geraten.
Bewusst, mäßig, dankbar für das, was uns zur Verfügung steht: Das sind die Ingredienzien des Genusses. Sie verweisen auf etwas ganz anderes als Egoismus oder Oberflächlichkeit. Sie bewahren und stärken unseren Sinn für das Schöne und die Freude am Leben.
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