Haftbefehl-Doku: "Kinder suchtkranker Eltern glauben oft, sie seien schuld"

Rapper Haftbefehl mit Sonnenbrille, Goldkette und Mikrofon gestikuliert auf einer Bühne.
Eine neue Netflix-Dokumentation erzählt die Geschichte des suchtkranken Rappers Haftbefehl. Zu sehen sind darin auch seine Kinder. Was es bedeutet, mit einem suchtkranken Elternteil aufzuwachsen.

Haftbefehl gilt als einer der bekanntesten Rapper im deutschsprachigen Raum. In der Doku "Babo – Die Haftbefehl-Story" auf Netflix steht seine persönliche Geschichte im Mittelpunkt. Familiäre Schicksalsschläge, psychische Probleme, jahrzehntelange Drogensucht. 

Eine Geschichte, mit der auch die Kinder des Musikers – Noah (8) und Aliyah (5) – aufwachsen. So bezeichnet sich Aykut Anhan, wie Haftbefehl mit bürgerlichem Namen heißt, im Film etwa selbst als "Dreck", als er über seine Rolle als Vater spricht.

Suchterkrankungen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen

Das Aufwachsen in suchtbelasteten Familien ist kein Randphänomen. Schätzungen zufolge sind rund zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Österreich mit der Alkoholabhängigkeit eines oder beider Elternteile konfrontiert. Etwa die Hälfte aller Minderjährigen hat enge Bezugspersonen mit problematischem Alkoholkonsum. 

Bei illegalen Substanzen ist die Datenlage begrenzt, sagt Lisa Schindlauer von der Organisation Dialog, die suchterkrankte Personen und ihre Angehörigen betreut. "Wir gehen davon aus, dass etwa drei Prozent der Kinder betroffen sind." Suchterkrankungen gehören nicht nur zu den häufigsten psychischen Störungen, sie gehen oft auch mit weiteren einher, etwa Depressionen oder Angst- oder Persönlichkeitsstörungen.

Inwieweit die Suchterkrankung eines Elternteils die Entwicklung beeinträchtigt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. "Einerseits kommt es auf das Ausmaß der Suchterkrankung an", sagt Schindlauer, die selbst eine Mutter-Kind-Gruppe mit suchtkranken Müttern leitet. "Ein sogenannter funktionaler Konsum, wo der Alltag in der Familie noch aufrechterhalten werden kann, wie es zum Beispiel oft bei Alkohol der Fall ist, hat andere Auswirkungen als eine akut eskalierende Lage. Wenn ein Elternteil zum Beispiel nicht mehr ansprechbar ist oder hospitalisiert werden muss."

Andererseits spielt auch die Substanz eine Rolle. "Unterschiedliche Substanzen haben unterschiedliche Wirkungen", sagt Schindlauer. "Kokain wird konsumiert, um sich aufzuputschen, Cannabis hingegen, um sich zu entspannen. Der 'Alleskönner' Alkohol bedient vielerlei Bedürfnisse."

Eltern sollten Bedürfnisse ihrer Kinder wahrnehmen

Wesentlich für das Wohl des Kindes ist, ob Eltern in der Lage sind, emotional verfügbar zu sein. "Es geht darum, ob Eltern Bedürfnisse ihrer Kinder erkennen, darauf reagieren und sich einlassen können", sagt Schindlauer. 

Je ausgeprägter die Sucht, desto stärker leidet die Bindung zum Kind, zeigt die Forschung. Sind suchtkranke Eltern durch ihren Konsum beeinträchtigt, sind sie nicht in der Lage, dem kindlichen Bedürfnis nach Bindung nachzukommen. "Wenn das nur ab und zu passiert, entsteht kein irreparabler Schaden. Tun sich langfristig Defizite auf, mündet das in einen permanent hohen Erregungszustand beim Kind", beschreibt die Expertin. Kinder erleben ein hohes Maß an Stress, fühlen sich hilflos, ohnmächtig und orientierungslos.

"Auch Schuldgefühle spielen eine Rolle", sagt Schindlauer. "Oft glauben Kinder, sie seien selbst schuld, dass Mama oder Papa konsumieren." Bei älteren Kindern kommt Scham dazu. "Man will keine Freunde mit nach Hause bringen, weil man nicht weiß, in welchem Zustand die Eltern sind, oder was daheim los ist – was Rückzug und Einsamkeit begünstigen kann."

Es geht darum, ob Eltern Bedürfnisse ihrer Kinder erkennen, darauf reagieren und sich einlassen können.

von Lisa Schindlauer

Expertin für Suchtprävention

Auch suchtkranke Mütter und Väter können gute Eltern sein

Aus der Präventionsforschung ist bekannt, dass Kinder aus suchtbelasteten Familien ein um zwei- bis sechsfach erhöhtes Risiko aufweisen, später ebenfalls eine Abhängigkeitserkrankung auszubilden. 

Rund ein Drittel entwickelt gravierende Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, ein weiteres leichte bis mittelschwere Probleme, die oft nur vorübergehend sind. "Etwa ein Drittel der betroffenen Kinder entwickelt keine relevanten Probleme oder bleibt psychisch vollkommen gesund bzw. stabil."

Auch suchtkranke Mütter und Väter können gute Eltern sein, sagt Schindlauer: "Suchtkranke Eltern sind stark stigmatisiert, was den Zugang zu Hilfe blockiert", bedauert sie. Wichtig sei, Betroffene auf dem Weg in ein stabiles Leben zu unterstützen. "Ist man beispielsweise gut in ein Substitutionsprogramm eingebunden, wird der Alltag mit Sucht als chronische Erkrankung geordnet lebbar."

Wesentlich für ein gelungenes Familienleben sei auch, welche persönlichen und elterlichen Kompetenzen und Ressourcen Mütter und Väter mitbringen: "Wir wissen, dass es einen starken Zusammenhang zwischen Trauma und Sucht gibt, aber nicht alle Eltern mit Abhängigkeitserkrankungen haben eine solche Geschichte."

Haftbefehl-Doku als Präventionsinstrument nur bedingt sinnvoll

Dass der Film das Thema ins öffentliche Licht rückt, sieht Schindlauer mit gemischten Gefühlen: "Grundsätzlich ist es immer gut, wenn über Suchterkrankungen gesprochen wird." Als Präventionsinstrument eigne sich der Film aufgrund der stark voyeuristischen Darstellungen nur bedingt.

Allerdings berichtet Schindlauer, dass Fachleute der Organisation Dialog in den vergangenen Wochen bereits mehrfach von Schulen angefragt wurden. "Wenn der Film als Suchtpräventionsmaßnahme besprochen wird, reicht es nicht, die Doku anzuschauen und Drogen zu verteufeln. Auf die meisten Jugendlichen hat der Film keine abschreckende, sondern eine faszinierende Wirkung – die finden, dass Haftbefehl ein cooler Typ ist." 

Neben differenzierter Aufklärungsarbeit durch Expertinnen und Experten sei die Stärkung der Lebenskompetenz Schülerinnen und Schüler wichtig. "Damit sie in schwierigen Lebensphasen nicht auf den Substanzkonsum zurückgreifen, sondern auf funktionale Bewältigungsstrategien."

"Kinder spüren alles"

Wesentlich ist, dass betroffene Eltern therapeutische Unterstützung bekommen. Ihre Kinder benötigen verlässliche Bezugspersonen. "Im Fall von Haftbefehl ist, so scheint es, die Mutter als präsente Bezugsperson verfügbar. Das gibt Struktur, Sicherheit und Kontinuität." 

Oft würden suchtkranke Mütter und Väter ihre Probleme aus Angst und Scham verbergen. Schindlauer ermutigt zu einem offenen Umgang: "Kinder spüren alles, deswegen ist es wichtig, auch Suchtprobleme altersgerecht zu besprechen."

Kommentare