Haftbefehl-Doku: Sozial-Porno oder Anti-Drogen-Film?

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"Babo - die Haftbefehl Story" zeigt den Totalabsturz eines schwer drogenabhängigen Menschen. Aber ist das eine Dokumentation wert?

Er schrieb so hinreißende Sätze wie „Chabos wissen, wer der Babo ist“, reimte NPD auf Dresden. Und auch wenn manch einer jetzt schaudern mag. Es sind tatsächlich hinreißende Sätze gewesen, oder jedenfalls hinreißend neue Sätze, mit denen Haftbefehl da Anfang der 2010er in der deutschen Hip-Hop-Szene explodierte.

Ja, Haftbefehl ist sein echter Künstlername und als solcher machte er den wahrscheinlich härtesten, jedenfalls aggressivsten Ghetto-Rap Deutschlands. Davon ist heute nichts mehr übrig. Als Haftbefehl mag er eine Legende sein, vor allem aber ist er mit 39 Jahren am Ende. Zwei Mal ist „Hafti“ im Laufe der fast dreijährigen Dreharbeiten der neuen Netflix-Doku „Babo – die Haftbefehl-Story“ beinahe an einer Überdosis gestorben. 

Seit er 13 Jahre alt ist, konsumiert er. Koks. Erst das beherzte Eingreifen seines kleinen Bruders, der ihn in Istanbul in die geschlossene Entzugsanstalt steckt, stoppt die Abwärtsspirale. „Wir mussten uns irgendwann entscheiden: Schreiten wir ein, oder riskieren wir, dass er bleibende Schäden davonträgt oder noch Schlimmeres passiert“, sagt sein Bruder in der Doku.

Wobei Aykut Anhan, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, tatsächlich für sein Leben gezeichnet ist: Das ganze Koks hat seine Nasenscheidewand weggeätzt, mit eingefallener Nase, dick und aufgedunsen, ist er nicht wiederzuerkennen, wie er gleich zu Beginn der Doku erzählt, warum er das alles so auch der Öffentlichkeit zeigen will. „Wieso nicht?“, fragt er da. „Soll ich lügen?“ Realness nennt man diese Attitüde im Hip Hop. Das Einzige, was Hafti bleibt.

Depressionen, Koks, Selbstmord

Und so sind wir quasi live dabei, wie er sich mit blutverschmierter Nase gerade noch so auf der Bühne halten kann, wie er immer tiefer in seine Depression abtaucht, wie seine Frau davon spricht, alleinerziehende Mutter zu sein, obwohl ihm seine Kinder doch so wichtig sind. Wie er erzählt, dass er seinen Vater mehrfach vor dem Selbstmord bewahrt hat – bevor er es dann einmal nicht mehr geschafft hat.

Haftbefehl-Doku als Sozial-Porno?

Haftbefehl ist der Grund, weshalb Durchschnittskartoffeln wie der Autor dieser Zeilen wissen, dass „Babo“ und „Abi“ Vater heißt. Sein Erfolg mag der Anlass für die Dokumentation sein, die aktuell auf Netflix in Österreich und Deutschland auf Platz 1 rangiert. Um den Künstler Haftbefehl geht es in „Babo“ aber nur am Rande. Im Zentrum steht Aykut Anhan, dieser furchtbar traurige, drogenkranke Mann, in all seinen Abgründen, die den Zuseher fassungslos hinterlassen. Und die Kritiker mit der Frage: Muss man das sehen? Ist das nicht einfach ein Sozial-Porno, bei dem sich die Seher am Elend anderer aufgeilen? Nein, ist es nicht. Das, was Moreno mit seinem Co-Regisseur Sinan Sevinç hier geschaffen hat, ist ein Anti-Drogen-Film, so wie „Full Metal Jacket“ ein Anti-Kriegs-Film ist.

Je realer die Erzählung, desto abschreckender die Wirkung. Und diese Wirkung ist enorm. Schüler aus Offenbach, der Heimat von Anhan, wollen, dass die Doku auch im Schulunterricht behandelt wird. Als Mahnmal funktioniert die Doku allemal. Nur als Denkmal nicht. „Warum gehst Du nicht ins Spital?“, fragt Regisseur Moreno Anhan am Ende der Doku einmal. „Und dann?“, fragt Anhan. „Dann geht es dir vielleicht besser.“ „Und dann?“ „Dann geht’s Dir vielleicht richtig gut.“ „Und dann?“

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