Naddel im Netz herabgewürdigt: "Stigma rund um Sucht ist nach wie vor groß"

Schatten eine Frau, die Alkohol aus einer Flasche trinkt.
Nadja Abd el Farrag ging offen mit ihrem problematischen Konsum um. Wie das Alkoholproblem der Deutschen nach ihrem Tod im Netz kommentiert wird, ist beispielhaft für den gesellschaftlichen Umgang mit Sucht.

"Es ist schockierend, wie herablassend man sich über eine Erkrankung äußern kann", sagt Regina Walter-Philipp, ärztliche Leiterin der Suchthilfe Wien. Die Allgemeinmedizinerin spielt auf jene Debatten an, die seit dem Tod von Nadja Abd el Farrag in sozialen Medien geführt werden.

Nadja Abd el Farrag, besser bekannt als "Naddel", verstarb vergangene Woche, Medienberichten zufolge an Organversagen. Seit Jahren war bekannt, dass die Medienpersönlichkeit mit gesundheitlichen Problemen kämpfte. Sie litt an Leberzirrhose. Eine Erkrankung, die im Endstadium zu einem vollständigen Leberversagen führen kann. Abd el Farrag sprach von einer Folgeerscheinung jahrelanger Medikamenteneinnahme, aber auch offen über ihren problematischen Alkoholkonsum.

Wie das Alkoholproblem der Deutschen nun auf digitalen Plattformen kommentiert wird, zeige "wie groß das Stigma rund um Suchterkrankungen nach wie vor ist", betont Walter-Philipp. "Die Art, wie sie attackiert und herabgewürdigt wird, macht offensichtlich, dass man Alkoholabhängigkeit nicht als das wahrnimmt, was sie ist: eine Krankheit."

Das sagt die Leiterin der Suchtprävention Wien zu Alkoholabhängigkeit

Wie man problematischen Konsum bei sich erkennt und welche gesellschaftliche Haltung es Alkohol gegenüber braucht, erklären Regina Walter-Philipp und Lisa Brunner, Leiterin der Suchtprävention der Sucht- und Drogenkoordination Wien, im KURIER-Doppelinterview.

KURIER: Prominente gehen immer öfter offen mit ihren Alkoholproblemen um. Zumindest damit, wie sie davon losgekommen sind. Wieso bleiben sie in der Normalbevölkerung immer noch oft verdeckt?

Walter-Philipp: Ich zitiere einen Kollegen vom Anton Proksch Institut: "In Österreich darf jeder saufen, aber alkoholkrank darf er nicht sein." Wir haben eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz der Substanz gegenüber, aber die Erkrankung, die damit einhergehen kann, wird ganz anders gesehen. Wenn Menschen an Alkoholabhängigkeit erkranken, hat das neben schwerwiegenden sozialen und medizinischen Folgen auch Einfluss auf die Persönlichkeit. Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit oder gesteigerte Impulsivität sind Attribute, die nicht gerne gesehen sind.

Brunner: Es ist nach wie vor so, dass Sucht allgemein als Willensschwäche oder moralische Verfehlung gewertet wird. Und wenn man sich nicht im Griff hat, wird man geächtet. Eine Haltung, die man jemandem, der beispielsweise Diabetes hat, niemals entgegenbringen würde. 

Studien zeigen, dass immer mehr Frauen einen riskanten Umgang mit Alkohol pflegen. Warum?

Brunner: Im Zusammenhang mit der Entwicklung, dass Frauen sich im Alkoholkonsum mehr und mehr den Männern angleichen, spricht man von einer paradoxen Emanzipation. Es geht damit einher, dass Frauen heute eigenständiger und finanziell unabhängiger sind und sich auch im Trinkverhalten Männern anpassen. Allerdings haben immer noch doppelt so viele Männer einen problematischen Alkoholkonsum. 

Walter-Philipp: Was wir beobachten, ist, dass Frauen sich früher Hilfe suchen. Dieses Muster zeigt sich zum Beispiel auch bei Vorsorgeuntersuchungen, die seltener und später von Männern in Anspruch genommen werden. 

Wirkt Alkohol unterschiedlich auf die Geschlechter?

Brunner: Wir wissen heute, dass übermäßiger Alkoholkonsum bei Frauen den Östrogenstoffwechsel durcheinanderbringt, was unter anderem dazu führt, dass das Risiko für Osteoporose und Brustkrebs steigt. 

Walter-Philipp: Frauen vertragen von ihrer körperlichen Konstitution her Alkohol weniger gut. Frauen haben tendenziell einen höheren Fettanteil und einen geringeren Wasseranteil im Körper als Männer. Was dazu führt, dass die Konzentration von Alkohol beim Konsum automatisch höher ist. Außerdem ist bei Frauen das Enzym, das für den Abbau von Alkohol in der Leber verantwortlich ist und damit für die Freisetzung von Substanzen, die wie ein Zellgift im Körper wirken, in geringerem Ausmaß vorhanden. 

Was kann die Entstehung einer Sucht begünstigen?

Brunner: Es sind immer mehrere Faktoren, die ineinandergreifen. Bei Alkohol ist es relevant, zu schauen, was die Motive des Trinkens sind. Benutze ich Alkohol, um mich zu beruhigen, um depressive Stimmungen abzubauen, Probleme zu verdrängen, mich zu entspannen? Sobald Alkohol eine Funktion abseits des Genusses bekommt, geht es in eine missbräuchliche Richtung, die in eine Sucht münden kann. Im Grunde kann jeder eine Sucht entwickeln, wobei die Persönlichkeit eine Rolle spielt, wenngleich man von dem Konzept des Suchtcharakters abgekommen ist. Menschen, die beispielsweise ein starkes Stimulationsbedürfnis haben, können eher dazu neigen. Auch das Abhängigkeitspotenzial einer Substanz spielt eine Rolle – Alkohol hat ein recht hohes. Das Umfeld und die Kultur, in der man aufwächst, sind ebenso wesentlich.

Walter-Philipp: Nicht zuletzt spielen auch genetische Faktoren mit – und die Verfügbarkeit einer Substanz. Dieses multifaktorielle Geschehen versuchen wir in modernen Therapiekonzepten abzubilden. Man widmet sich dem suchtkranken Menschen auf sozialer, psychischer und medizinischer Ebene. Und die Behandlung soll sich immer nach dem individuellen Erkrankungsmuster richten.

Internview zu Alkoholsucht mit Lisa Brunner, Leiterin der Suchtprävention der Sucht- und Drogenkoordination Wien

Lisa Brunner, Leiterin der Suchtprävention der Sucht- und Drogenkoordination Wien

Woran erkennt man bei sich selbst ein problematisches Trinkverhalten?

Walter-Philipp: Zum Beispiel, wenn das Trinkverhalten wiederholt negative Auswirkungen auf das Leben hat: laufende Konflikte mit dem Partner, vernachlässigte Aufgaben im Beruf, vom Umfeld geäußerte Sorgen. Wenn Alkohol in sozialen Settings immer automatisch dazugehört und nicht mehr hinterfragt wird.

Wann wird die Grenze zur Sucht überschritten?

Walter-Philipp: Bei der Diagnosestellung sind das Craving, das zwanghafte Verlangen nach der Substanz, die Toleranzbildung, was bedeutet, dass der Konsum steigen muss, um dieselbe Wirkung zu erzielen, Entzugserscheinungen, Kontrollverlust beim Konsum, vernachlässigte Interessen und fortgesetzter Konsum, obwohl man sich der schädlichen Folgen bewusst ist, relevant. 

Was tun, wenn man bei einem nahestehenden Menschen solche Signale bemerkt?

Brunner: Sinnvoll wäre, es anzusprechen. Das kostet Mut und Kompetenz in der Gesprächsführung. Das gilt im privaten, aber auch im beruflichen Umfeld, wo Führungskräfte eine Fürsorgepflicht haben. Jeder Siebte hat in Österreich ein Alkoholproblem, da kann man sich ab einer gewissen Firmengröße ausrechnen, dass das im Team jedenfalls ein Thema sein kann. Wenn Angehörige unsicher im Umgang sind, sollten sie sich nicht scheuen, eine Suchtberatungsstelle aufzusuchen. Das gilt selbstverständlich auch für Betroffene. 

Oft dauert es Jahre, bis ein suchtkranker Mensch Hilfe aufsucht. Was passiert im Körper?

Walter-Philipp: Es gibt kein gesundes Maß an Alkohol. Aber je häufiger und regelmäßiger der Konsum und/oder je höher die Dosis, die konsumiert wird, umso höher ist das Risiko eine Folgeerkrankung zu entwickeln. Es gibt eine Reihe von Erkrankungen die monokausal vom Alkohol verursacht werden, beispielsweise eine Bauchspeicheldrüsenentzündung, eine Leberzirrhose, eine Polyneuropathie oder eine Alkoholdemenz. Außerdem geht die Alkoholerkrankung häufig mit anderen psychiatrischen Erkrankungen, wie Angststörungen oder Depressionen, einher. 

Regina Walter-Philipp im Interview zur Alkohol-Sucht, ärztliche Leiterin Suchthilfe Wien

Regina Walter-Philipp, ärztliche Leiterin Suchthilfe Wien 

Ist immer ein Entzug nötig?

Walter-Philipp: Das hängt davon ab, was die Patientinnen und Patienten möchten. Denn es braucht Veränderungsbereitschaft und Motivation für einen Entzug. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es ist, einem abhängigen Menschen zu vermitteln, dass er Alkohol nie wieder konsumieren darf. 

Von der Sucht wegkommen heißt also lebenslange Abstinenz? 

Walter-Philipp: Vom Abstinenzparadigma ist man ein Stück abgekommen. Es gibt Modelle des kontrollierten Konsums und es ist möglich, Menschen in andere Trinkformen zu begleiten, für die das Konzept Abstinenz nicht geeignet ist. 

Brunner: Jeder Patient ist anders und man muss in Absprache mit dem Betroffenen realistische Behandlungsziele setzen. Das kann anfangs ein reduzierter Konsum sein. Leider halten sich Mythen rund um stationäre Alkoholbehandlung hartnäckig. Da gibt es das Bild vom eingesperrten Patienten im Krankenbett mit heftigen Entzugssymptomen. Das ist in der Realität nicht so. Die Entzugssymptome werden medikamentös abgefangen und die Behandlungen sind auch ambulant möglich.

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Schauspieler Ben Affleck war jahrelang Alkoholiker.

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Reception of CDU/CSU Parliamentary Group before German Film Awards

TV-Star Jenny Elvers hat mehrere Entzüge hinter sich.

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++ ARCHIVBILD ++ Nadja Abd el Farrag gestorben

Abd el Farrag hatte ein problematisches Verhältnis zu Alkohol.

Abd el Farrag hatte ein problematisches Verhältnis zu Alkohol. 

Welchen gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol wünschen Sie sich?

Walter-Philipp: Eine Regulierung ist zielführend, vor allem Jugendliche müssen in Schutz genommen werden, weil Alkohol insbesondere im noch reifenden Gehirn Schädigungen verursachen kann. Von einer Prohibition halte ich nichts, Alkohol ist in Österreich ein Kulturgut. Aber es braucht mehr Aufklärung über die negativen Auswirkungen.

Brunner: Es wäre wichtig, dass wir achtsamer damit umgehen. Es geht nicht ums Verteufeln, aber um verantwortungsvollen Umgang. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass es in der Gastronomie normal sein sollte, jemanden anzusprechen, der zu viel getrunken hat. Oder Konzepte des verantwortungsvollen Alkoholausschankes, wie in anderen Ländern üblich. Und dass man nicht schief angeschaut wird, wenn man mal nichts trinkt. Alkohol hat vielfältige Wirkungen, auch solche, die positiv erlebt werden. Aber wir müssen kompetenter darin werden, zu erkennen, wenn es ohne zwei Bier täglich nicht mehr geht – und Hilfe zu suchen.

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