Ein Tag an der Demenzambulanz: "Ich hab’s im Kopf, Frau Doktor"
„Ich glaube mich zu erinnern, dass ich einen IQ von 138 habe. Dumm bin ich nicht.“ Der Mann mit den dunklen Haaren , die nur am Hinterkopf ergraut sind, schaut der Ärztin in die Augen. In seinem Blick liegt Unmut, Vorwurf – und etwas Verlorenes. Kaum eine Minute später lächelt Herr Josef (Name von der Red. geändert) wieder, schließlich wendet sich der 71-Jährige hilfesuchend seiner Tochter und seiner Frau zu. Sie haben ihn heute hierher begleitet.
Ein Zimmer in der Demenzambulanz der Uni-Klinik für Neurologie am AKH Wien/MedUni Wien, Assoc.-Prof. Elisabeth Stögmann versucht herauszufinden, welche Erkrankung Herrn Josef so verändert hat. Während sie seine Reflexe testet, erzählt die Tochter von den Problemen. Etwa vom Wandern mit dem Vater vergangenes Wochenende: „Nach dem Toilettengang ist Papa herumgeirrt. Seine Orientierung wird schlechter.“ Herr Josef verteidigt sich: „Ich habe mir eingebildet, einen schöneren Weg zu sehen.“ Er leidet an Wortfindungsstörungen, spricht langsam und reagiert oft ungeduldig bis aggressiv. So sieht er nicht ein, dass er nicht mehr Autofahren sollte. Ihm fehlt, wie so vielen, die an fortgeschrittener Demenz leiden, die Krankheitswahrnehmung. „Patienten reagieren auf die Information, dass sie an einer Demenz leiden, manchmal beleidigt und meinen, als dumm dargestellt zu werden“, erzählt Stögmann.
Familiäre Belastung
„Sein Wesen hat sich sehr verändert“, sagt Josefs Frau. Sie wirkt müde und ratlos. Die Situation ist angespannt und belastet die ganze Familie. Wie so viele Angehörige, die einen Patienten hierher begleiten, will sie Gewissheit haben. Einen Begriff hören, für das, was ist – und die Zukunft aller prägen wird. „Die meisten Angehörigen fühlen sich durch das Ansprechen der Diagnose entlastet, sie wollen den Namen der Krankheit haben und wissen, wie es weiter geht.“ Bei Josef ist noch eine Untersuchung ausständig, die wichtig für die endgültige Diagnose ist.
Es gibt verschiedene Formen von Demenz – nicht jeder, der vergisst, leidet an Alzheimer. Die jüngste Patientin, bei der Stögmann vor Kurzem die Diagnose stellen musste, ist 37 Jahre alt. Ein seltener Fall familiär bedingter Alzheimerdemenz. „Je jünger, desto größer die Betroffenheit. Die Patientin und ihr Begleiter haben geweint, als sie die Diagnose erfuhren.
Oft sind die Kranken sehr unsicher. Wenn sie an die Ambulanz kommen und erzählen, wie sie sich fühlen, sagen sie oft: „Gut!“ Um dann verunsichert ihre Begleiter zu fragen: „Oder?“ Die erzählen dann, wie es wirklich ist: „Es geht ihm/ihr schlecht.“ Anders ist das, wenn die Diagnose früh gestellt werden kann. Wie bei Herrn Georg (Name von der Red. geändert), 75, pensionierter Akademiker, dessen Frau seine Gedächtnisprobleme rasch erkannt hat. „Er wollte nicht zum Arzt, aber dann habe ich gesagt, wenn du das nicht machst, verlasse ich dich“, erzählt sie. Der Neurologe schickte Herrn Georg zur Abklärung an die Klinik. „Sie sind in einem sehr frühen Stadium einer Alzheimer-Demenz und haben eine leichte kognitive Störung, sind selbstständig, haben geringe Ausfälle. Das wird sich weiterentwickeln, aber Sie sind früh mit der Diagnose dran“, erklärt Stögmann dem Patienten. Georg ist in einer Phase, in der viel getan werden kann, um die Krankheit hinauszuzögern: Gedächtnistraining ebenso wie eine entsprechende Medikation oder die Aufnahme in laufende Therapiestudien. Georg will nun mit einer privaten Gedächtnistrainerin arbeiten. "Je früher die Diagnose erfolgt, desto besser. Wir verstehen die Frühstadien mehr, die eingesetzten Medikamente bringen zwar keine Heilung, können aber das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen. Der Wunsch der klinischen Forschung geht dahin, schon ganz, ganz früh einzusetzen. Denn bereits 20 Jahre vor den ersten Symptomen zeigen sich Amyloidablagerungen im Gehirn", sagt Stögmann.
Was Herrn Georg aktuell stört? „Dass mir die Namen von Darstellern, die ich im Fernsehen sehe, nicht mehr einfallen.“ Seine Frau ergänzt: „… und du suchst nach Worten oder verwechselst Namen von Gassen und Straßen.“ Georg und seine Frau sind ein Positiv-Beispiel im Umgang mit der Krankheit. „ Beide können sich durch das Sozialsystem bewegen. Sie finden sich schnell und leicht zurecht“, sagt Stögmann. Es ist unterschiedlich, wie Betroffene und Angehörige damit umgehen. Viele sind überfordert. „Man wird herumgeschickt, das System ist unübersichtlich. Mir tun Menschen leid, wenn sie sich keine Unterstützung suchen können.“
Sich Hilfe holen
Ein Beispiel für so eine schwierige Situation sind Patient Hans und seine Lebensgefährtin Hermine (Namen von der Red. geändert). Beide wirken bedrückt. Herr Hans, 80, kann kaum gehen, wurde mehrfach an der Hüfte operiert und sagt: „Außerdem hab ich’s im Kopf.“ Hermine, 76, nickt – man merkt: Sie weiß nicht mehr weiter – beide wissen nicht mehr weiter. „Die Stimmung ist am Hund, am liebsten wäre mir einschlafen und morgen nicht mehr aufwachen“, sagt Hans. Stögmann fragt ihn, was er am Vortag gegessen hat, er kann sich an nichts erinnern. Schließlich erklärt sie die Befunde – an Alzheimerdemenz leidet er nicht. Besonders wichtig ist ihr in diesem Fall aber die soziale Situation, die Abwärtsspirale des Paars ist offensichtlich.
„Wo hätten Sie denn gerne Unterstützung, was können wir tun?“ Sie schlägt eine Tagesbetreuung für Hans vor, damit Hermine etwas für sich tun kann. Die sagt: „Ich trau mich kaum mehr aus dem Haus, weil ich Angst habe, es passiert was.“ Hans sträubt sich gegen einen Aufenthalt in einer Tagesstätte – sie lehnt eine Hilfe, die zu ihnen nach Hause kommt, ab. Misstrauen. Eine Patt-Situation. „Haben Sie viele Konflikte zu Hause?“, fragt Stögmann. „Ja schon. Wenn das Wetter schön ist, setzt er sich auf den Balkon, dann geht’s halbwegs.“ Für die Beiden wäre Hilfe außerordentlich wichtig. „Nichts machen ist schlecht, so negativ muss das alles nicht sein“, redet die Expertin auf das Paar ein und gibt Tipps – für Tagesstätten, Selbsthilfegruppen, Pflegegelderhöhung. Ob sie etwas annehmen, ist offen. „Zwingen kann ich ja niemanden. Wir betreiben hier auch Sozialmedizin – aber das sind die Momente, die mich deprimieren.“
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