Dietrich Grönemeyer: „Rücken ist ein psychosomatisches Organ“
In Deutschland wird Dietrich Grönemeyer oft „Rückenpapst“ genannt. Tatsächlich ist er praktizierender Arzt, Professor em. für Radiologie und Mikrotherapie an der Universität Witten/Herdecke und Verfasser zahlreicher Bestseller wie „Mensch bleiben“, „Dein Herz“, „Lebe mit Herz und Seele“. 1997 gründete er das Grönemeyer Institut für Mikrotherapie in Bochum. Seit Jahren ist er Vorstand des Wissenschaftsforums Ruhr e.V. Das ZDF sendet seit 2012 viermal jährlich die Sendung „Dietrich Grönemeyer - Leben ist mehr!“. Im Oktober 2017 erschien sein Buch „Mein großes Rückenbuch. Wie Sie Ihren Schmerz besiegen“ (ZS Verlag München). Im KURIER-Interview stellt der 65-Jährige die Wirbelsäule in den Mittelpunkt. Sie ist für ihn auch ein Schlüssel zur Seele.
KURIER: Wenn der Rücken „sprechen“ könnte, was würde er uns denn mitteilen?
Dietrich Grönemeyer: Vielleicht würde er sagen: „Denk an mich, nicht erst, wenn dir etwas weh tut. Ich bin ein Wunderwerk, zentral in deinem Körper. Ohne mich könntest du nicht aufrecht stehen. Ich bin über Nervenbahnen mit verschiedensten Regionen, mit Organen und Gliedmaßen vernetzt.“
Wie zeigt sich das genau?
Es kann etwa der Fuß schmerzen, obwohl er gesund ist. Denn aus den Wirbeln treten Nervenbündel aus, die zu unterschiedlichen Bereichen des Körpers führen. Wenn diese Versorgungswege gestört sind, weil etwa eine Bandscheibenläsion oder eine Arthrose in den kleinen Wirbelgelenken die Nerven quetscht, können Organe betroffen sein.
Das heißt also, dass mein Kopfweh mit dem Rücken zu tun haben kann?
Ja. Aber leider wird dieser Zusammenhang bei vielen Diagnosen nicht ausreichend berücksichtigt. Nicht nur Kopfschmerzen, auch Schwindelgefühle, Schlaflosigkeit und Nackenverspannungen können damit zusammenhängen, dass in der Halswirbelsäule Nerven gereizt sind. Störungen in der Brustwirbelsäule können sich als Druck und Schmerz in der Herzgegend bemerkbar machen. Was scheinbar auf Herzprobleme hindeutet, hat dann mit dem Herzen gar nichts zu tun. Oder ein anderes Beispiel für den gleichsam fremdgesteuerten Schmerz: Am obersten Lendenwirbel treten die Nerven aus, die den Dickdarm und die Leisten versorgen. Störungen können Bauchdruck auslösen oder wie eine Reizung des Darms erscheinen.
Ist der Rücken auch ein Spiegel der Psyche?
Ja, der Rücken ist nicht nur ein Körperteil, sondern wirklich ein ganz zentrales psychosomatisches Organ. Er muss alles „tragen“, so auch Stress und seelische Belastungen. Wer unter Dauerbelastung, chronischem negativem Stress steht, zieht instinktiv die Schultern hoch. Das ist eine natürliche, unbewusste Abwehrhaltung. Die gesamte Rückenmuskulatur und Faszien spannen sich als Teil eines Verteidigungs- bzw. Fluchtreflexes an. Wird die Spannung nicht durch beispielsweise Bewegung und/oder Wärme oder Massagen gelöst, kann das richtig wehtun.
Was tun, um achtsamer mit dem Rücken umzugehen?
Wir leben in einer Zeit, in der Leistung, Fitness und Produktivität im Vordergrund stehen, wo alles immer schneller gehen soll, immer besser und immer mehr werden muss. Nur funktioniert das Leben eben nicht nach dem Prinzip des Leistungssports: weiter, höher, schneller. Es lässt sich nicht immer alles noch mehr steigern.
Stress spielt eine große Rolle.
Er treibt uns einerseits an, etwas zu tun. Aktiv zu sein, das eigene Leben zu gestalten. In Bewegung zu sein, körperlich und geistig, ist notwendig. Chronischer negativer Stress ist es, der zu Anspannung, dann zur Verspannung und möglicherweise zu Schmerz führt. Gegengewichte sind Bewegung und sich Zeit nehmen für Dinge, die wir lieben.
Bewegung hat einen hohen Stellenwert – in der Prävention und auch, wenn es bereits Probleme gibt. Was empfehlen Sie?
Prinzipiell: Bleiben Sie in Bewegung, körperlich und geistig. Ernähren Sie sich gesund. Denken Sie positiv und gestalten Sie Ihr Leben mit Freude. Beginnen und beenden Sie jeden Tag mit einem Lächeln. Nehmen Sie sich Zeit für sich, Ihre Freunde, Ihre Liebsten. Suchen Sie sich Gelegenheiten, bei denen Sie gezielt Stress abbauen. Etwa bei Yoga-, Tai-Chi- oder Gymnastikstunden, auch Tanzen und andere Aktivitäten in der Gruppe.
Es sollte halt Spaß machen.
Richtig. Suchen Sie sich eine Bewegungsform aus, die Ihnen wirklich zusagt, damit Sie auf Dauer „dabei“ bleiben. Perfektion steht nicht im Vordergrund. Auf Ihr persönliches Wohlfühl-Gefühl kommt es an.
Dem Smartphone widmen Sie in Ihrem Buch ein eigenes Kapitel. Warum?
Für uns ist das Handy ein Arbeitsinstrument geworden, das inzwischen unverzichtbar ist. Immer, wenn es möglich ist, gestalte ich bewusst Phasen ohne Handynutzung. Denn die Natur hat den Dauerblick auf das Smartphone ja nicht vorgegeben. Viele Menschen haben sich so an ihr Handy gewöhnt, an die Möglichkeiten zu Information und Kontaktpflege, dass sie nicht realisieren, was sie ihrer Halswirbelsäule mit der gekrümmten Haltung antun.
Was kann ich dagegen tun?
Nehmen Sie möglichst eine neutrale Stellung ein. Senken Sie lieber die Augen als den Kopf. Machen Sie regelmäßige Pausen, entspannen Sie Schultern und Hals durch gezielte Übungen.
OP oder konservative Therapie?
Man sollte sich von leichten zu schweren Therapieansätzen vorarbeiten: Es erst mit Bewegung, Wärme, z.B. mit Moorpackungen, Massagen oder Schmerzmitteln probieren. Bei den meisten Patientinnen und Patienten handelt es sich ja überwiegend um muskuläre Verspannungen. Bei unklaren Fällen ziehe ich immer einen Neurologen zurate. Mit der elektrischen Nerven- und Muskeluntersuchung kann er gut herausfinden, ob ein Nerv belastet ist.
Was ist die von Ihnen propagierte Mikrotherapie genau?
Hierbei werden schmerzlindernde und abschwellende Medikamente unter CT- oder Kernspin-Sicht gezielt an die Bandscheibe oder gereizte Nerven injiziert.
Was hilft sonst noch?
Leichte Schmerzmittel, Wärmebehandlungen und Physiotherapie (Massagen). Bei chronischen Rückenschmerzen ist aufgrund der vielen möglichen Ursachen eine Analyse durch ein interdisziplinäres Ärzteteam wichtig. Je nach Diagnose ergibt sich dann ein individueller Therapieansatz. Die Operation steht ganz am Ende, Notfallsituationen natürlich ausgenommen.
Wann ist sie unumgänglich?
Wenn ein Nerv stark eingedrückt wird, z. B. durch einen Massenvorfall einer Bandscheibe oder bei stärksten Schmerzen und Lähmungen durch einen Vorfall. Ein seltenes Ereignis. Bei nur etwa drei Prozent der Rückenpatienten muss die Bandscheibe wirklich operiert werden. Operieren muss man auch eine Verengung des Spinalkanals (Anm.: Kanal im Inneren der Wirbelsäule, wo Rückenmark und Nerven verlaufen), wenn spezielle Spülungen mit abschwellenden Medikamenten keine Linderung bringen.
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