Die kindliche Psyche leidet massiv unter den Schulschließungen
Ängste, depressive Symptome, zu wenig Bewegung und zu viel Bildschirmzeit: Die Schulschließungen im Zuge der Corona-Pandemie haben für Kinder und Jugendliche weltweit gravierende Folgen. Zu diesem Ergebnis kommen britische Forscher in einer im Fachmagazin "JAMA Pediatrics" vorgestellten Meta-Analyse.
Die Autoren appellieren, diese Folgen künftig stärker zu gewichten. Gerade erst riefen auch Weltgesundheitsorganisation (WHO) und UN-Kinderhilfswerk Unicef Regierungen in der Europa-Region auf, dafür zu sorgen, dass alle Schulen trotz Corona geöffnet werden und offen bleiben.
Studien aus zwölf Ländern
Für die Studie wertete das Team um den Kinder- und Jugendarzt Russell Viner vom University College London 43 Studien aus zwölf Ländern mit insgesamt mehr als 104.000 Teilnehmern bis zum Alter von 19 Jahren aus. Die Wissenschafter konzentrierten sich dabei auf die Aspekte physische und psychische Gesundheit, Schlaf und körperliche Aktivität sowie Kinderschutzmaßnahmen.
Obwohl sich die analysierten Studien sowohl in ihrer Methodik als auch der Probandenanzahl und Untersuchungsdauer zum Teil deutlich unterschieden, ließen sich doch auffallend konsistente Ergebnisse feststellen, so das Fazit der Forscher. So hätten fast alle Arbeiten eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen durch die Schulschließungen im Zuge der ersten Corona-Welle dokumentiert.
Keine Freunde treffen
Wie die Autoren betonen, könnten die beobachteten Ergebnisse nicht ausschließlich auf die Schulschließungen zurückgeführt werden, da diese in den meisten Fällen mit weiteren Lockdown-Maßnahmen einhergingen. Nichtsdestotrotz liege nahe, dass sich die geschlossenen Schulen wegen der fehlenden sozialen Kontakte zu Mitschülern und Lehrern besonders stark auswirkten. "Während der ersten Welle der Schließungen war der Rückgang der sozialen Kontakte unter Gleichaltrigen bei Kindern und Jugendlichen größer als in anderen Altersgruppen", heißt es in der Studie.
Risiko psychischer Belastung
Konkret ergab die Meta-Analyse, dass je nach Studie 18 bis 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen über dem Risikogrenzwert für psychische Belastungen lagen, darunter vor allem Ängste und depressive Symptome. Jene Werte waren erkennbar höher als vor der Pandemie. "Diese Zunahme der psychischen Belastung ist umso besorgniserregender, als es auch Hinweise darauf gibt, dass die Zahl der Fälle, in denen eine medizinische Versorgung in Anspruch genommen wurde, während der ersten Welle international deutlich zurückgegangen ist, und zwar um 50 bis 65 Prozent bei den Fällen von Selbstverletzung und um 40 Prozent bei den psychiatrischen Einweisungen", heißt es in der Analyse.
Die Staaten versagen
Das deute darauf hin, dass der ungedeckte Bedarf an psychosozialer Versorgung bei ohnehin gefährdeten Kindern und Jugendlichen gestiegen sei: "Zusammengenommen sprechen diese Daten für ein Versagen der Staaten beim Schutz von Kindern und Jugendlichen während der ersten Covid-19-Welle, während die Ressourcen auf ältere Menschen ausgerichtet wurden." Ob alternative Online-Schulangebote die beschriebenen Effekte etwas abmildern konnten, lasse sich anhand der vorhandenen Daten nicht beantworten.
Keine Kontrolle
Studien aus den USA und Großbritannien hätten zudem einen deutlichen Abfall der Meldungen von Kindesmisshandlungen ergeben, die sonst häufig von Lehrkräften gemacht wurden - für die drei US-Kinderärzte Danielle Dooley, Hope Rhodes und Asad Bandealy ein besorgniserregender Befund. Er zeige, dass weltweit die entsprechenden Meldesysteme für den Fall künftiger Schulschließungen angepasst werden müssten: "Dies verdeutlicht ein brüchiges System mit zu wenig Inputs, ein System, das Innovation braucht", schreiben sie in einem unabhängigen Kommentar.
Die Epidemie raubt den Schlaf
Darüber hinaus legten Studien aus Großbritannien und China nahe, dass etwa ein Viertel der Kinder und Jugendlichen erhebliche Schlafschwierigkeiten entwickelte. Zudem deuteten einige der Daten darauf hin, dass die Schulschließungen zu einer Verringerung gesunder Verhaltensweisen wie körperlicher Aktivität sowie gleichzeitig zu einer Zunahme weniger gesunder Ernährungs- und Bildschirmverhaltensweisen geführt hätten. "Während ein Teil der festgestellten Zunahme der Bildschirmzeit auf das Online-Lernen zurückzuführen sein könnte, sind die Kinder und Jugendlichen selbst besorgt über die Auswirkungen einer hohen Bildschirmzeit auf ihr Wohlbefinden", so die Autoren.
Unnötig Schaden zufügen
Sie appellieren angesichts ihrer Ergebnisse eindrücklich, die schädlichen Auswirkungen von Schulschließungen stärker zu berücksichtigen: Die Entkoppelung von Schulschließungen und weiteren Lockdown-Maßnahmen, bei denen die Schulen geschlossen bleiben, während andere Maßnahmen gelockert werden, stelle eine nicht evidenzbasierte Politik dar, die Kindern wahrscheinlich unnötigen Schaden zufüge.
Widerstandsfähig
Die Autoren betonen: "Da sich die Beweise häufen, dass Schulen nicht die Treiber für die Übertragung von Covid-19 sind, müssen politische Entscheidungsträger die Risiken einer Übertragung durch Kinder im Schulalter gegen die Nachteile einer Schulschließung abwägen und daran arbeiten, die Schäden von Covid-19 für die nächste Generation zu verringern." Auch Dooley, Rhodes und Bandealy unterstreichen: "Kinder sind widerstandsfähig, aber diese Widerstandsfähigkeit erfordert individuelle Unterstützung, systemische Begleitung, gesellschaftliche Investitionen und wissenschaftliche Forschung zu den kurz-, mittel- und langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf Kinder."
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