Der Trend zur Scheibe: Wer hat das Plexiglas eigentlich erfunden?
Die Vorzeichen für den deutschen Ex-Apothekengehilfen und Chemiker waren alles andere als günstig: Großunternehmen hatten bereits ein Auge auf sein Lieblingsforschungsfeld geworfen. Und sie hatten Labore sowie viel mehr Geld. Regelmäßige Explosionen beim Experimentieren hätten jeden anderen zusätzlich abgeschreckt. Doch Otto Röhm ließ die Kunststoff-Forschung keine Ruhe.
Seit 1901 beschäftigte er sich mit der „Gummiarbeit“, wie er es nannte, dem Polymerisat des Acrylsäureester – einer farblosen, durchsichtigen, harten, aber sehr elastischen und wasserunlöslichen Masse.
Der große Bums
Ende der 1920er-Jahre kam Röhm der Zufall zu Hilfe, erzählt Alexander Bismarck, Chemiker an der Universität Wien: „Eigentlich wollte er einen synthetischen Kautschuk herstellen.“ Röhm habe eine Flasche mit Polymethylmethacrylat am Fenster in der Sonne stehen lassen. „Das Licht löste eine chemische Reaktion aus. Die Flasche explodierte. Zurück blieb eine feste, durchsichtige Masse. Ist mir auch schon passiert.“ Bismarck lacht. Die Legende will wissen, dass Röhm aber so perplex gewesen sei, dass er fortan von Plexiglas sprach. Am 4. Dezember 1933 ließ er das Warenzeichen unter der Nummer 461639 eintragen.
Knapp 100 Jahre später ist es das Ding der Stunde: Seit zwei Monaten kann sich die Firma kaum vor Aufträgen retten. „Mit dem Ausbruch der Pandemie wurden wir mit Bestellungen für unsere Plexiglas-Platten förmlich überrannt“, sagt Geschäftsführer Michael Pack. Seitdem wird bei Röhm praktisch rund um die Uhr Plexiglas hergestellt. Trotzdem wird das Acrylglas in Europa knapp. Das ist dem Trend zum öffentlichen Leben hinter Plexiglas geschuldet: Schutzwände werde es in Zukunft vermutlich in allen Lebensbereichen geben.
Und dafür scheint das Material ideal: Es sei widerstandsfähig und langlebig, weiß Chemiker Bismarck. Wer es noch genauer wissen will: Polymethylmethacrylat (PMMA) oder Acrylglas ist hartes Plastik (Das Wort Plexiglas darf nur die Firma Röhm verwenden). Aus Erdöl entsteht feines Granulat, vier bis fünf Millimeter lange klare Körner. Sie schmelzen bei Temperaturen von 180 Grad zur teigigen Masse. Diese wird durch dünne Schlitze gepresst. Heraus kommen klare Platten.
Es lässt sich aber auch in der Wärme ziehen, biegen, pressen und mit Heißluft an die Innenwände einer Form blasen. Deshalb ist das Material bei Künstlern und Designern von Leuchtreklamen beliebt: Schallplattenbehälter, ein Telefon, Lampen und ein Zeitungshalter – alles kein Problem.
Das Licht löste eine chemische Reaktion aus. Die Flasche explodierte. Zurück blieb eine feste, durchsichtige Masse
„Ausgehärtet, kann das Material gesägt, gefräst oder durchbohrt werden. Auch mit dem Hammer kann man draufhauen. Dann zerbricht es zwar, splittert aber nicht, was es nach dem Ersten Weltkrieg für Schutzbrillen und Gasmasken interessant machte“, sagt Bismarck.
Das erste Produkt war daher auch 1928 die splittersichere Schutzbrille. Fenster im Zeppelin, Oberlichtscheiben in Omnibussen, Lineale, Zeichengeräte, Geschirr und Schmuck folgten.
1939 starb der Kunststoff-Pionier Otto Röhm als reicher Mann, obwohl seiner Erfindung erst im Zweiten Weltkrieg der ganz große Erfolg beschert war: Die deutsche und die US-Luftwaffe versahen Cockpits und Nasen ihrer schweren Bomber mit leichtem Plexiglas. Späher saßen in den klaren Nasen und halfen Piloten, Ziele anzuvisieren. Auch jene Maschinen, die im August 1945 zwei Atombomben über Japan abwarfen, waren mit Plexiglas ausgestattet.
Hitlers Cashcow
Schon zuvor, 1941, löste der deutsche Baustoff in den USA eine Kontroverse aus. Hitler sei finanziell beteiligt an fast jedem amerikanischen Flugzeug, da es mit deutschem Baustoff ausgestattet werde, lautete die Kritik: „Die Nazis kontrollieren Plexiglas“. Den Siegeszug von Polymethylmethacrylat konnte das nicht bremsen.
Nach Kriegsende baute Röhms Sohn die von den Alliierten zerbombte Fabrik wieder auf. Architekten verbauten Plexiglas nun unverdrossen als Dächer oder Balkone. Ältere Semester werden sich vielleicht an den durchsichtigen Flügel erinnern, den Udo Jürgens 1983 auf 3454 Meter Höhe karren ließ, um am Jungfraujoch ein Ständchen zu klimpern. In Großaquarien in Europa und dem Nahen Osten leben Piranhas und Haie hinter meterhohen Plexiglasscheiben. Und im Golf von Toulon bei Marseille entstand unter Wasser eine Seilbahn aus Plexiglas.
Auch in der Medizin ist der Alleskönner omnipräsent: Zahnfüllungen, Gaumenplatten, künstliche Linsen, optische Gläser. Nur als Hüftprothese war das Zeug ein Misserfolg.
Zuletzt schien der Hype ein wenig abzuklingen: Mikroplastik in den Meeren geriet in die Schlagzeilen, daher sollte jegliches Plastik, auch Acrylglas, in Zukunft vermieden werden.
Doch dann kam das Virus.
Chemiker Bismarck beruhigt: Plexiglas lasse sich recyceln. „Außerdem sind Polymere dafür ausgelegt, dass man sie lange nutzt.“
Bleibt nur zu hoffen, dass es nicht zu lange nötig sein wird.
Vater des Plexiglas
Otto Röhm wurde 1876 in Öhringen/Königreich Württemberg geboren. Nach der Schule musste er erst eine Lehre zum Apothekergehilfen machen, ehe er in Tübingen in Rekordzeit Chemie studieren konnte. Seine Abschlussarbeit 1901 beschäftigte sich bereits mit Kunststoff-Forschung.
Multitalent
Bald entwickelte Röhm Waschmittel, Kosmetika, Enzyme für Backwaren und Fruchtsäfte (mehr zu seinem Werdegang: www.world-of-plexiglas.com). Mehr als
70 Patente
gehen auf sein Konto. Darunter jenes auf dünne Acrylglasscheiben, die Röhm bereits 1933 unter der Marke Plexiglas registrieren ließ.
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