Das überlebende Kind wird immer ein Zwilling bleiben

Schock und Trauer auf der einen, großes Glück auf der anderen Seite. Wenn Eltern bei der Geburt ihrer Zwillinge ein Baby verlieren und das andere gesund zur Welt kommt, lässt sich die Ambivalenz ihrer Gefühle kaum in Worte fassen.
Die Lebens- und Sozialberaterin Petra Hainz begleitet am Zentrum Nanaya in Wien Mütter und Väter, deren Kinder während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt gestorben sind. Sie kennt deren Hilflosigkeit und Überforderung – und die besonderen Erschwernisse von trauernden Zwillingseltern. „Es wird ihnen oft nicht zugestanden, zu trauern, nach dem Motto: Ihr habt ja eh ein lebendes Kind“, berichtet sie. „Dabei leiden sie so wie andere Eltern, die ein Kind verloren haben. Der überlebende Zwilling hält einen im Leben, kann aber den verstorbenen Zwilling nicht ersetzen.“
Vor allem im späteren Stadium der Schwangerschaft können Mütter ihre Zwillinge im Bauch unterscheiden, wissen, welcher Fötus strampelt, sich bewegt. Daher trauern Vater und Mutter unterschiedlich. „Das Umfeld kannte das Kind noch nicht. Die Mutter schon.“
Rituale schaffen
Dass einer der Zwillinge im Mutterleib stirbt, kommt im ersten Trimester häufig vor. Bei der Geburt selbst haben Zwillinge kein signifikant erhöhtes Sterberisiko – es sei denn, sie kommen als extreme Frühchen zur Welt. Der Verlust schmerzt nicht nur die Eltern, sondern auch den verbleibenden Zwilling, betont Hainz. „Man weiß, dass das bei manchen Menschen viel auslösen kann, wenn sie in der Gebärmutter zu zweit waren“, sagt sie. „Das verbleibende Kind wird niemals ein Einzelkind sein. Es wird immer ein Zwilling bleiben.“
Umso wichtiger sei es, Rituale zu schaffen und dem „Sternenkind“ genauso viel Platz einzuräumen wie seinem lebenden Geschwisterchen. Das kann eine Kerze sein, die bei der Taufe entzündet wird, oder spezielle Kinderbücher, die Geschwistern den Verlust näherbringen.
Eltern sollten sich keinen Druck machen, wenn das überlebende Baby am Anfang ihre ganze Kraft braucht. Trauern könne man ein Leben lang, sagt Hainz. „Es darf nur kein Tabuthema sein.“
Sie erzählt von einer Mutter, die ein Zwillingspärchen hat und in einer weiteren Schwangerschaft einen Zwilling verloren hat. „Sie sagte: Als Zwillingsmama ist man gewohnt, zwei Kindern nachzulaufen. Beide fordern Aufmerksamkeit, beide müssen ihren Platz bekommen. So ist es auch, wenn ein Zwilling verstorben ist.“
Verein Regenbogen
Selbsthilfe-Initiative für Eltern nach Totgeburt,
Fehlgeburt, Abtreibung.
www.shg-regenbogen.at
Zentrum Nanaya
Zentrum für Schwangerschaft, Geburt und Leben mit Kindern. Trauerbegleitung. https://nanaya.at
Buchtipp
„Am Anfang waren wir zu zweit. Ein Buch für verlassene Zwillingskinder“ von
U. Fischer und I. Thurmann. Mabuse-Verlag, 32 S., 19 €
Kommentare