Nur Schätzungen möglich
Zahlen beruhen immer nur auf Schätzungen, erklärt Datenwissenschafter John Haas vom Campus Wieselburg der Fachhochschule Wiener Neustadt. „Internationale Studien haben Unschärfen von Faktor 5 bis Faktor 40. Für Österreich gehen manche von 15 bis 25 aus.“ Zieht man dabei die in der Wuhan-Studie angenommenen Faktoren heran, dann „könnte man in Österreich mit aktuell 150.000 Infizierten rechnen“, so Haas.
Forscher von der Columbia University betonen aber in einer Studie: Analysen zu unerkannt Infizierten enthalten immer große Unsicherheiten und variieren von Ort zu Ort. Dennoch glauben sie, die Zahlen lassen sich grob auf andere Länder übertragen. „In einigen Gesellschaften kommen zu Beginn einer Epidemie vielleicht zehn unentdeckte Fälle auf einen nachgewiesenen, in anderen sind es fünf“ erklärte Studienleiter Jeffrey Shaman. „Wir können uns über die genaue Zahl streiten.“ Im Großen und Ganzen laufe es aber auf diese Größenordnung hinaus.
Kein allgemeines Model
Das könnte für mehr Verunsicherung sorgen, befürchten manche. Ist es nicht möglich, ein allgemeingültiges Modell zu nutzen? Nein, sagt Haas. „Es gibt keine Patentformel, auf die sich die wissenschaftliche Community einigt. Vielfalt ist auch aus wissenschaftlicher Sicht wichtig.“ Er räumt aber ein, „dass es das im Moment schwierig“ macht. „Im Prinzip ist es ein Hypothesentest. Hinter jedem Modell sitzt auch ein Mensch, der seine Weltsicht einbringt.“
Für den Datenexperten ist klar: „Je mehr man testet, desto besser kann man die Dunkelziffer schätzen.“ Aber: „Eine genauere Schätzung ist immer nur rückwirkend möglich.“ Daher sei es dringend nötig, repräsentative Stichproben durchzuführen, also regelmäßig einen Querschnitt der Bevölkerung zu testen. Wie bei Umfragen lasse sich auch bei der Coronavirus-Dunkelziffer mit einem Querschnitt aus rund 5.000 Personen ein guter Wert hochrechnen. „Dann kann man die Folgen für das Gesundheitssystem besser abschätzen.“ Die Regierung kündigte zuletzt eine repräsentative Stichprobentestung von 2.000 Österreichern an.
Völlige Klarheit wird es aber erst nach der Infektionswelle geben, betont Virologe Heinz Burgmann. Der Schlüssel: Tests auf Antikörper, die Menschen im Zuge einer Infektion ausbilden. „Dann wird man sehen, ob symptomatische Erkrankungsfälle nur die Spitze eines Eisberges sind und sich der Großteil – also leichte Fälle ohne Symptome – unter Wasser befindet.“
Herdenimmunität ist derzeit kein Modell
Die nun verschärften Maßnahmen könnten nach ihrer Rücknahme erst recht eine Explosion der Infektionen zur Folge haben, warnen manche. Immer wieder wird mit der sogenannten Herdenimmunität argumentiert. Wenn zwei Drittel eine Infektion durchgemacht hätten, seien auch andere geschützt. Gleichzeitig sollten gefährdete Gruppen aber weiterhin geschützt werden.
Virologe Christoph Steininger von der MedUni Wien kann diesem Ansatz wenig abgewinnen. „Dann würden die Erkrankungsfälle unkontrolliert explodieren. Wir werden auch mit den jetzt gesetzten Maßnahmen in kurzer Zeit noch viel mehr – auch schwer – Erkrankte in den Spitälern sehen.“
Gipfel erst Mitte bis Ende April
Warum derzeit der Gipfel der Infektionen Mitte bis Ende April erwartet wird, erklärt sich aus der Inkubationszeit. „Den Effekt von dem, was heute gemacht wird, sieht man erst in 14 Tagen.“ Vorausgesetzt, es wird sofort zu 100 Prozent umgesetzt. Eher müsse man aber eine weitere Verzögerung einbeziehen.
In China rechnet man indes mit einer zweiten Welle. Warum diese abgeflachter als die erste ausfallen könnte, liege möglicherweise daran, dass man bereits mehr über die Wirksamkeit einiger Maßnahmen wisse.
Kommentare