Neuartiger Ansatz: Schmerzfreier Rücken dank Cannabis?

Eine ältere Frau sitzt mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Bettrand und hält sich den unteren Rücken, während ein Mann schläft.
Ein Cannabisextrakt zeigte in einer deutsch-österreichischen Studie gute Wirkungen bei chronischen Schmerzen im unteren Rücken. Was die Ergebnisse bedeuten und wo Cannabinoide in der Medizin bereits eingesetzt werden.

Sie können sich ziehend, stechend oder bohrend anfühlen, in Hüfte, Becken oder Beine ausstrahlen – und im Alltag enorm belastend erlebt werden: Manchmal verschwinden Schmerzen im unteren Rücken nach kurzer Zeit von allein. Nicht selten sind Kreuzschmerzen hartnäckig, ihre Behandlung komplex.

Ein deutsch-österreichisches Forschungsteam hat in einer klinischen Studie nun einen Cannabisextrakt zur Behandlung untersucht. In der Studie erhielten 820 Patientinnen und Patienten mit chronisch-unspezifischem Kreuzschmerz entweder das Präparat VER-01 oder ein wirkstofffreies Placebo zum Schlucken. 

Nach drei Monaten berichteten die Teilnehmenden in der VER-01-Gruppe über eine größere Schmerzreduktion als in der Placebogruppe. Auch bei Schlafqualität und körperlichem Wohlbefinden profitierten sie stärker. Allerdings erlebte auch die Placebogruppe schmerzlindernde Effekte. VER-01 ist ein Cannabis-Vollspektrum-Extrakt und enthält ein breites Spektrum an Cannabis-Inhaltsstoffen, vor allem Tetrahydrocannabinol (THC) (Infobox).

Ergänzender Einsatz

"Für mich ist eine wichtige Erkenntnis der Untersuchung, dass wir keine starken Nebenwirkungen in der Medikamentengruppe gesehen haben, sich Schlaf- und Lebensqualität verbessert haben und gleichzeitig keine Abhängigkeitserscheinungen auftraten", sagt Sabine Sator, Leiterin der Klinischen Abteilung für Schmerzmedizin an der MedUni Wien und selbst an der Studie beteiligt. Dennoch hat fast jeder Fünfte die Therapie mit der Prüfsubstanz wegen Nebenwirkungen abgebrochen, im Vergleich zu 3,5 Prozent in der Placebogruppe. "Allerdings ist die Nebenwirkungsrate im Vergleich zu Opioiden, die bei behandlungsresistenten Rückenschmerzen zur Anwendung kommen können und deren Gabe wir eigentlich vermeiden wollen, geringer."

Der Hersteller Vertanical sieht in VER-01 einen Meilenstein. "Ich sehe keinen Paradigmenwechsel in der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen", sagt Waltraud Stromer, Vizepräsidentin der Österreichischen Schmerzgesellschaft. "Wir suchen in der Schmerzmedizin laufend nach Alternativen, wenn wir bei Patienten mit Standardverfahren nicht das erreichen, was wir uns wünschen", präzisiert sie. Mit Cannabinoiden, neben THC auch Cannabidiol (CBD), seien bei einem gewissen Prozentsatz gute Effekte zu erzielen. 

So sieht es auch Sator: "Denkbar ist eine zusätzliche Behandlung, wenn andere Substanzen nicht die gewünschte Verbesserung gebracht haben."

Vielfältige Forschungen

Vor allem bei Nervenschmerzen, aber auch bei nozizeptiven Schmerzen an Muskeln, Bändern und Gelenken oder Bauchschmerzen gebe es laut Stromer eine Patientengruppe, "wo wir mit der richtigen THC-Dosierung in der Schmerzbehandlung weiterkommen". CBD sei wegen seiner immunmodulierenden, entzündungshemmenden und nervenzellschützenden Wirkungen interessant: "Hier hat man in der Forschung gesehen, dass Kinder mit bestimmten Formen der Epilepsie davon profitieren."

Auch bei der Behandlung des häufigsten bösartigen Hirntumors bei Erwachsenen, dem Glioblastom, zeigten sich positive Effekte. "Das Tumorwachstum kann damit verlangsamt werden." Förderliche Wirkungen zeigten sich auch bei Alzheimer, Schizophrenie, Suchterkrankungen oder Rheuma.

Erwartete Effekte

Dronabinol, eine spezifische Form von THC, wird von der Krankenkasse zur Behandlung von Tumorpatienten gegen Übelkeit und Erbrechen und auch bei Patienten mit Multipler Sklerose, Spasmen und HIV bezahlt. CBD übernimmt die Kasse bei bestimmten Epilepsieformen. "Auch bei chronischen Nervenschmerzen, die nicht auf herkömmliche Behandlungsversuche ansprechen, wird es zur Verbesserung des Schlafes eingesetzt", erklärt Sator. Dass selbiges bald auch für VER-01 gelten könnte, bezweifelt sie.

Wie bei jedem Medikament kann es auch zu Nebenwirkungen kommen. Bei Patientinnen und Patienten mit psychiatrischen Begleiterkrankungen sei Vorsicht geboten, weil etwa bei höherer Dronabinol-Dosierung das Risiko für Depressionen, Psychosen und Suizidalität steigt, sagt Sator. "Allerdings kann man, wenn die Therapie an einer Klinik erfolgt, auch spezielle Mischungen mit Cannabidiol anbieten, um dieses Risiko zu minimieren."

Dass sich in der neuen Studie auch in der Placebogruppe eine Schmerzlinderung zeigte, verdeutlicht laut Stromer den Einfluss von Erwartungseffekten auf pharmakologische Therapien: "In der Medizin ist der Placeboeffekt nicht wegzudenken." Die Ergebnisse seien "jedenfalls interessant und untermauern, dass es einen reflektierten Platz für Cannabinoide in der gesamten Medizin geben sollte. Die Substanzen müssen aber adäquat und kontrolliert eingesetzt werden".

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