Krux mit dem Kreuz: Rückenschmerz vergeht nicht von heute auf morgen

Die meisten Menschen haben im Laufe des Lebens irgendwann mit Schmerzen im unteren Rücken zu tun.
An manche Patientinnen und Patienten erinnert sich Hannah Moser noch Jahre nach Abschluss der Behandlung. "Vor einiger Zeit kam eine junge Frau, um die 30 Jahre alt, an sich bewegungsaffin und in einem sitzenden Beruf tätig, zu mir", erinnert sich die Physiotherapeutin. "Sie klagte über quälende Schmerzen im unteren Rücken, hatte etliche Arztbesuche und Untersuchungen hinter sich – ohne Diagnose."
Das Beispiel der jungen Frau illustriert, wie vielschichtig Schmerzen im unteren Rücken sein können.
"Bei ihrer Entstehung spielt die wachsende Bewegungsarmut eine große Rolle", sagt Petra Krepler, Leiterin des Wirbelsäulenzentrums am Orthopädischen Spital Speising. Insbesondere langes Sitzen, aber auch Stehen, führt zu einer Fehlbelastung der Wirbelsäule und der Muskulatur, die sie umgibt. Es kommt zu Verspannungen und muskulären Dysbalancen, die Schmerzen auslösen. Übergewicht kann überlastungsbedingte Beschwerden verstärken. "Und es hemmt die körperliche Aktivität", sagt Krepler. Bei Wirbelsäulenoperationen sei Übergewicht zudem ein Risikofaktor für Komplikationen.
"Wir leben in einer Welt, in der sich die Arbeit immer mehr in Büros abspielt, viel Stress auf uns einprasselt und oft ungesund gegessen wird", fasst Moser Risikofaktoren zusammen, zu denen auch Rauchen und vergangene Verletzungen zählen. Zu Fehlbelastungen der Wirbelsäule kann es auch bei sportlich aktiven Menschen kommen, weiß Krepler: "Wir bemerken, dass vor allem junge Burschen durch soziale Medien sehr früh mit Gewichtstraining beginnen, um Muskelmasse aufzubauen und Schönheitsidealen zu entsprechen. Weil sie sich noch im Wachstum befinden, kommen sie schnell in den Überlastungsbereich." Kreuzweh macht auch vor Profisportlern nicht Halt: "Wenn Leistungssportler 20 Stunden pro Woche oder mehr trainieren, steigt auch die Kreuzschmerzintensität."
Laut Fehlzeitenreport des Dachverbands der Sozialversicherungsträger sind Krankheiten des muskuloskelettalen Systems und des Bindegewebes der dritthäufigste Grund für Krankenstände. Sie sind für ein Fünftel aller Krankenstandstage verantwortlich.
Globale Epidemie
Tatsächlich ist Rückenschmerz nicht nur ein Problem Erwachsener, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen verbreitet. So geben laut Erhebungen des deutschen Robert Koch-Instituts mehr als drei Viertel der Elf- bis 17-Jährigen an, in den vergangenen drei Monaten Schmerzen gehabt zu haben. Fast die Hälfte davon klagt dabei über Rückenschmerzen. Nicht zuletzt können Abnutzungs- und Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule hinter den Beschwerden stecken.
Der Schmerz im unteren Rücken gilt als klassische Volkskrankheit: Allein in Österreich leiden rund zwei Millionen Menschen regelmäßig unter Kreuzweh. Weltweit sind etwa 619 Millionen Personen betroffen, rechneten Fachleute vor rund eineinhalb Jahren im Fachjournal The Lancet vor. Tendenz steigend: Bis 2050 soll diese Zahl laut Prognosen auf 843 Millionen ansteigen. Auch der Welttag der Physiotherapie stand vergangenes Jahr im Zeichen des unteren Rückenschmerzes. Als "globale Epidemie" wurde das Leiden im Zuge dessen bezeichnet.
Allein in Wien werden laut Erhebungen pro Jahr 174 Millionen Euro für die Behandlung von chronischen unspezifischen Rückenschmerzen ausgegeben.
Belastung auf allen Ebenen
Kreuzschmerzen können einem Schlaf und Lebenslust rauben, Alltag und Hobbys verunmöglichen, zu Jobverlust oder sozialer Isolation führen. Sie erzeugen nicht nur eine immense Krankheitslast, sondern auch enorme Kosten für das Gesundheitssystem. Hunderte Millionen Euro gibt der Staat Österreich jährlich für die Versorgung aus. Internationale Studien legen dar, dass der volkswirtschaftliche Schaden die Behandlungskosten um ein Vielfaches übersteigt. Krankenstände, Berufsunfähigkeit oder Frühpensionierungen sind häufige und kostspielige Folgen.
Um dem entgegenzuwirken, müsse laut Krepler die Bedeutung von Bewegung schon im Kindesalter verankert werden. Jedes fünfte Kind ist übergewichtig, ein Risikofaktor für spätere Rückenleiden. "Man sollte Bewegung als etwas Positives konnotieren und gleichzeitig etwas später im Leben des Kindes darüber aufklären, was für den Rücken belastend ist", sagt Krepler.
Von spezifischem Rückenschmerz spricht man, wenn eine anatomische Ursache vorliegt. Etwa ein Bandscheibenvorfall, eingeengte Nervenstrukturen oder Überlastungen der kleinen Wirbelgelenke. Auch gynäkologische Erkrankungen sowie Krankheiten der Nieren, des Magen-Darm-Trakts, der Bauchspeicheldrüse oder der Bauchschlagader, entzündliche Erkrankungen, Krebs oder Infektionen können Beschwerden im unteren Rücken verursachen. Umgekehrt kann Kreuzschmerz in Bauch oder Leiste ziehen und Symptome auslösen, die Nierenschmerzen ähneln. Der Großteil der Betroffenen leidet allerdings an unspezifischem Rückenschmerz. Hier lässt sich kein konkreter Auslöser benennen. Meist stecken muskuläre Überlastungen, Sehnenansatzüberlastungen oder Irritationen der kleinen Wirbelgelenke dahinter.
Ein Bandscheibenvorfall ist keine Frage des Alters – chronischer Schmerz nicht zwingend die Folge.
„Wir wissen aus Studien, dass ungefähr bei jedem Dritten Schäden an den Bandscheiben sichtbar werden würden, wenn man jeden einer Diagnostik unterwerfen würde“, weiß Wirbelsäulenchirurgin Krepler. „Das Vorhandensein eines Schadens bedeutet aber noch nicht, dass man ein Leben lang Kreuzweh hat.“
Drückt eine vorgefallene Bandscheibe nicht auf einen Nerv oder liegt keine lokale Irritation des umgebenden Gewebes vor, sind keine schmerzauslösenden Strukturen betroffen.
Ein Bandscheibenvorfall kann in jedem Alter auftreten, bei Menschen zwischen 30 und 50 Jahren kommt er aber am häufigsten vor. Die Ursache – meist eine Folge von Haltungsfehlern, schwerer körperlicher Arbeit, Unfällen, körperlicher oder psychischer Überlastung sowie Übergewicht – ist immer gleich: Die Bandscheibe zwischen den Wirbelkörpern ist von einem festen Faserring umgeben, innen befindet sich ein gallertartiger Kern. Reißt der Ring ein, kann die Gallertmasse austreten und auf einen Nerv drücken – das verursacht die Beschwerden. Letztere reichen von ausstrahlenden Rückenschmerzen im Bein oder Fuß über Gefühlsstörungen bis hin zu Lähmungserscheinungen.
Solange der Schmerz als einziges Symptom Beschwerden bereitet, kann ohne operativen Eingriff behandelt werden. In 80 Prozent der Fälle reichen Physiotherapie und eine Schmerztherapie mit Infusionen und Infiltrationen aus, um Besserung zu erzielen.
Bleiben die Schmerzzustände trotz Behandlung länger als sechs Wochen bestehen, kann operiert werden. Beim Eingriff wird die auf den Nerv drückende Gallertmasse entfernt. Unumgänglich ist eine Operation, wenn der oder die Betroffene das Bein nicht mehr bewegen kann. Marlene Patsalidis
Ganzheitliche Therapie
Bei unspezifischem Kreuzschmerz ist die Prognose meist gut: "Die Wahrnehmung des endlichen Charakters und Aufklärung darüber, dass sich die Schmerzen innerhalb von drei bis fünf Tagen von selbst wieder bessern können ist wichtig", sagt Krepler. Bettruhe sei kontraproduktiv, "man sollte milde Aktivität beibehalten und gegebenenfalls Schmerzmittel einnehmen". Erst kürzlich ergab eine Studie, dass regelmäßiges Gehen massive Vorteile für Kreuzweh-Geplagte bringt. Betroffene blieben fast doppelt so lange ohne ein Wiederauftreten ihrer Rückenschmerzen, wenn sie regelmäßig zu Fuß unterwegs waren. "Der Körper bleibt in Bewegung, bei minimaler Belastung", stützt Krepler das Plädoyer fürs Spazieren.
Doch nicht selten sind Kreuzschmerzen hartnäckig. "Wenn der Schmerz länger als fünf Wochen besteht, ist eine Bildgebung einzusetzen", erklärt Krepler. Bleibt diese ohne Befund, muss der Blick geweitet werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rät zu einer biopsychosozialen Perspektive auf unteren Rückenschmerz. "Psyche und soziale Umstände sind wichtige Komponenten, die nicht von den körperlichen getrennt werden können und im Sinne einer ganzheitlichen Behandlung immer mitgedacht werden müssen", betont Krepler. Stress könne beispielsweise die Grundspannung der Muskulatur ebenso beeinflussen wie die Schmerzwahrnehmung.
Die Reduktion von Stress stand neben spezifischen Übungen, Ideen für einen bewegteren Alltag und rückenfreundlichen Anpassungen am Arbeitsplatz auch bei Mosers Patientin im Fokus: "Nach einer gewissen Zeit haben wir eine Psychotherapeutin hinzugezogen, weil wir zu dem Schluss gekommen sind, dass wir für bessere Effekte einen ganzheitlichen Ansatz brauchen."
Insbesondere bei unspezifischem unterem Rückenschmerz ist Physiotherapie die Behandlung der Wahl. "Was genau gemacht wird, hängt von Art, Intensität und Ursache der Schmerzen ab", erklärt Moser. Bei akuten Beschwerden seien Bewältigungsstrategien und Schmerzmanagement vorrangig. "Ist der Schmerz nicht so ausgeprägt, kann man gleich eine aktive Trainingstherapie anpeilen, wo spezifische Übungen einer Verschlechterung des Zustands vorbeugen sollen." Neben Kräftigung und Stabilisation stehen hier Koordination und Mobilisierung im Mittelpunkt. Oft müssen Betroffene beim Überwinden ihrer Bewegungsangst unterstützt werden. "Kreuzschmerzpatientinnen und -patienten haben oft einen langen Leidensweg hinter sich, ihr Schmerzgedächtnis ist durch den andauernden Schmerz überempfindlich geworden. Hier es ist wichtig, behutsam den Übergang von schmerzbedingter Inaktivität in selbstsichere Aktivität zu schaffen."
Das Schwierigste sei für Patienten oft, sich in Geduld zu üben – Kreuzweh vergeht nicht von heute auf morgen –, den Lebensstil zu adaptieren und neue Routinen aufzubauen. "Und diese auch beizubehalten, wenn der Schmerz nachlässt", sagt Moser. Bewegung sollte wie ein Dauermedikament eingesetzt werden. "Denn sobald man aussetzt, fängt der Muskel an, abzubauen – der Schmerz kehrt zurück."
Bei Rückenschmerzen sollten medizinisch evidente Therapien angewandt werden. Osteopathische Verfahren, konkret die parietale Osteopathie, Massagen oder Entspannungstechniken können ergänzend zu Physiotherapie sinnvoll sein.
Sport zur Priorität machen
Damit es erst gar nicht dazu kommt, sollten rückenschonendes Verhalten und Bewegung im Alltag die Regel und nicht die Ausnahme sein, sagt Sportwissenschafter Bernd Heidegger-Haber. "Wichtig ist, dass man auf die Ergonomie, also die richtige Körperhaltung bei der Arbeit achtet. Das umfasst richtiges Sitzen einerseits und genügend Bewegungspausen andererseits."
Menschen, die zu Schmerzen im unteren Rücken neigen, empfiehlt er Krafttraining mit Fokus auf Rumpfstabilität: "Gezieltes Training der Bauch- und Rückenmuskulatur hilft, die Wirbelsäule zu stabilisieren und Belastungen abzufangen." Auch Yoga und Pilates sind ratsam: "Diese Disziplinen verbessern die Beweglichkeit, stärken die Tiefenmuskulatur und fördern eine bessere Körperhaltung." Schwimmen stärke die Muskulatur bei gleichzeitig geringer Belastung der Gelenke. "Besonders Rücken- und Kraulschwimmen, nicht aber Brustschwimmen, sind empfehlenswert, da sie die Wirbelsäule in einer neutralen Position halten."
Bei Mosers junger Patientin trat letztlich die erhoffte Besserung ein. "Entlassen habe ich sie mit einem umfangreichen Informationspaket und vielen praktischen Tools, um vorbeugend körperlich aktiv zu sein – und den Schmerz akut zu lindern."
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