Christina Beran: Das Aufschieben ist ein altes Phänomen. Schon der altgriechische Dichter Hesiod hat um 700 vor Christus Dinge aufgeschoben. Auch der römische Kaiser Marc Aurel hat mit Ablenkungen gehadert – allerdings noch mit Dingen wie dem Lernen von Zaubersprüchen oder der Wachtelzucht. In der modernen Welt sind Ablenkungen vielfältiger geworden. Das erklärt das große Interesse an dem Thema. Wenn die Welt um uns herum immer wurrliger wird, ist es auch einfacher, sich von etwas ablenken zu lassen.
Sie sprechen vom Smartphone?
Natürlich bietet das Smartphone eine riesige Menge an potenziellen Ablenkungen. Es gibt aber heute auch darüber hinaus viel mehr Reize zu verarbeiten.
Ist jedes Aufschieben im Alltag gleich Prokrastination?
Im Alltag darf man Aufschieben und Prokrastinieren synonym verwenden. In der Psychologie beschreiben wir mit dem Begriff Aufschieben das, was wir alle – also rund 98 Prozent der Menschen – tun. Von Prokrastination sprechen wir, wenn man aus dem Hinauszögern nicht mehr rauskommt. In dem Fall muss man sich anschauen, was dahintersteckt.
Was könnte das sein?
Es gibt Überschneidungen mit bestimmten psychischen Krankheitsbildern. Bei der Depression kann es beispielsweise zu einer Aufgabenaversion kommen. Dinge, die man an sich gerne gemacht hat, machen einem plötzlich keine Freude mehr. Hier steht nicht das Prokrastinieren als Problem im Vordergrund, sondern der depressive Zustand.
Wie erkenne ich, dass mein Aufschieben noch normal ist?
Was das Aufschieben vom Prokrastinieren unterscheidet, ist, dass man Aufgeschobenes in der Regel dann doch immer hinkriegt. Und nichts aus dem Ruder läuft.
Warum zögert der Mensch überhaupt To-dos hinaus?
Wir hängen an dem Irrglauben, dass wir die Zeit managen können. Dabei geht es darum, unsere Gefühle, die wir rund um eine Aufgabe herum erleben, zu managen.
Was heißt das genau?
Dass wir der Illusion aufsitzen, wir wären rationale Wesen, die immer nach Prioritäten entscheiden. Wir entscheiden aber größtenteils emotional aufgrund unbewusster Vorbedingungen. Das, was wenig Energie braucht, und automatisiert von der Hand geht, machen wir lieber. Was mehr Kraft raubt, ist unangenehm. Diese Stimmung müssen wir bearbeiten.
Wie kann das gelingen?
Schnelle Patentrezepte greifen zu kurz. Es geht um nachhaltige Lösungswege mit eigener Note. Wir haben alle verschiedene Erfahrungen gemacht und verfügen über individuelle Stärken bei der Aufgabenbewältigung. Wir wissen meistens, wie es geht. Es gilt zu überlegen: Wie habe ich solche Gefühle in anderen Situationen schon überwunden? Was hat mir geholfen? Nimmt man sich dafür ein bisschen Raum, wird einem eine ganze Menge einfallen. Um diesen Aha-Effekt, der einen mit eigenen Ressourcen verbindet und Lösungen greifbar macht, geht es.
Gibt es Menschen, die eher zum Aufschieben neigen?
Es gibt Studiendaten aus den USA, die belegen, dass junge Menschen, und hier vor allem Männer, eher dazu tendieren. Das ist damit verknüpft, wie gut man darin ist, Impulse kontrollieren zu können. Um eine Aufgabe zu erledigen, die lästig ist, muss ich mich fokussieren und Ablenkungen widerstehen.
Kann man den Hang zum Aufschieben abtrainieren?
Bei der Sache zu bleiben, muss man lernen, je früher, desto besser. Unser Hirn ist glücklicherweise neuroplastisch: Was man oft macht, kann man gut. Das bedeutet aber auch, dass man am Ende mit einem leicht ablenkbaren Hirn dasitzt, wenn man jedem Impuls hinterherhirscht.
Viele behaupten, erst unter Druck richtig gut arbeiten zu können. Laut einer neuen Studie macht es keinen Unterschied bei der Hirnaktivierung, ob eine Deadline existiert.
Es gibt den Mythos des erfolgreichen Erledigens auf den letzten Drücker. Um kreativ zu sein, braucht man Ruhe. Ideenreichtum entsteht in jenen Bereichen des Hirns, die störungsanfällig sind. Droht man eine Deadline zu verpassen, erlebt man aber einen Adrenalinschub, der die Leistung steigert. Aus solchen Situationen geht aber selten Qualitätsvolles hervor.
Was ist der beste Tipp gegen Aufschieben im Alltag?
Eine wohlwollende Haltung zu sich selbst. Ein Ziel zu erreichen, ist ein schönes Gefühl. Man sollte sich auf die Schulter klopfen und sich merken, was dazu geführt hat. Dann kann man die Taktik anderorts wieder anwenden.
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