Atemtechniken gegen Stress und Angst: Kaum wirksamer als ein Placebo?

Atemtechniken: Die bisher größte kontrollierte Studie findet keinen psychologischen Nutzen jenseits des Placebo-Effekts.
Rund 23.000 Atemzüge nimmt der Mensch pro Tag. Weitestgehend unbewusst. Gezielte Atemtrainings werden zunehmend als heilend bei Stress, Schmerzen und Angstzuständen gepriesen. Die diversen Techniken werden auch immer öfter im Rahmen von Therapien genutzt.
Eine neue Studie aus Großbritannien versetzt dem Hype nun einen Dämpfer. Demnach sind Atemtechniken zwar schon förderlich fürs psychische Wohlgefühl. Ihre Wirkung könnte jedoch überschätzt werden, wie die Forschenden im Fachblatt Scientific Reports resümieren.
Auf der Suche nach soliden Daten
In der aktuellen Studie wurde die Wirkung des sogenannten "kohärenten Atmens" ins Visier genommen. Ziel dieser Technik ist es, Herzschlag und Blutkreislauf durch bewusstes Atmen wieder in Einklang zu bringen. Dafür wird das Ein- und Ausatmen bewusst verlängert. Daraus resultieren dann fünf bis sechs Atemzüge pro Minute. In der Regel holt man im Schnitt zwölf bis 14 Mal pro Minute Luft.
"Kohärentes Atmen ist eine einfache Art der Atemarbeit, die für ihre psychophysiologischen Vorteile bekannt ist", wird Studienautor Guy W. Fincham, promovierter Atemforscher an der Universität von Sussex, auf Psypost.com zitiert. Allerdings gebe es keine "extrem robusten randomisiert-kontrollierten Studien über diese Art der Atmung und die subjektive psychische Gesundheit bzw. das Wohlbefinden".
Die randomisierte kontrollierte Studie ist die hochwertigste Form einer klinischen Studie, um den Effekt einer Behandlung auf ein definiertes Ereignis, z. B. Heilungsraten, zu untersuchen. Dabei wird eine Gruppe von Versuchspersonen zufällig in zwei oder mehrere Gruppen aufgeteilt (randomisiert). Eine Gruppe erhält das zu untersuchende Medikament (Versuchsgruppe), die andere Gruppe (Kontrollgruppe) eine herkömmliche Therapie, ein Placebo oder gar nichts.
So können Wissenschafterinnen und Wissenschafter erforschen, wie wirksam ein neues Medikament im Vergleich zu einer herkömmlichen Behandlung oder einem Placebo ist. Wissen weder die Patientin/der Patient noch die Forscherin/der Forscher, wer welche Therapie erhält, wird die Studie doppelblind genannt. Dies soll eine objektive Auswertung der Ergebnisse ermöglichen. Weiß nur die Probandin/der Proband nicht, was sie/er erhält, spricht man von einer einfach-blinden Studienanordnung.
Mit seinem Team machte sich Fincham also an die Arbeit, dem Mangel an soliden wissenschaftlichen Daten entgegenzuwirken. "Wir wollten tägliches kohärentes Atmen mit einem Placebo über einen Zeitraum von etwa einem Monat vergleichen, um zu sehen, ob es Unterschiede gibt." Die Herausforderung dabei: Ein Placebo zu kreieren, der glaubwürdig eine Atemtechnik imitiert – ohne dessen Wirkung anzustreben. Denn die Teilnehmenden sollten nicht erahnen können, ob sie die potenziell wirksame Atemübung oder die wirkungslose Technik durchführen.
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Scheinschnaufen gegen ausgefeilte Atemtechnik
Die Studie umfasste letztlich 400 Teilnehmende über 18 Jahre. Die Stichprobe wurde mit Blick auf die Merkmale der Probandinnen und Probanden möglichst divers gestaltet, wobei die Mehrheit weiblich und weiß war. Alle Teilnehmenden mussten durch die Nase atmen können und Zugang zu Kopfhörern haben. Personen mit Erkrankungen, die die Atmung beeinträchtigen können, etwa Atemwegs- oder Herz-Kreislauf-Probleme, wurden ausgeschlossen.
Die Teilnehmenden wurden per Zufallsprinzip einer von zwei Gruppen zugewiesen. Die erste Gruppe übte vier Wochen lang täglich zehn Minuten lang die kohärente Atmung mit etwa 5,5 Atemzügen pro Minute. Die Übung wurde per Videoaufzeichnung von einem geschulten Trainer angeleitet. Die zweite Gruppe erhielt eine Placebo-Atemübung mit zwölf Atemzügen pro Minute, die der Intervention in allen Aspekten mit Ausnahme des Atemtempos entsprach.
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Beim Stressabbau zeigten sich keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Interessanterweise zeigten die Probandinnen und Probanden beider Gruppen verbesserte Stresswerte.
Auch bei Angstzuständen, Depressionen, Wohlbefinden und Schlafstörungen gab es keine signifikanten Unterschiede. Wieder berichteten beide Gruppen über Verbesserungen – einzig auf den Schlaf wurden keine positiven Effekte verzeichnet.
Beliebiges, bewusstes Atmen reicht aus
"Das Ausmaß der Verbesserung war zwischen den Gruppen nicht unterschiedlich", resümieret Fincham. "Dementsprechend fanden wir keinen messbaren Effekt des kohärenten Atmens, der über ein gut konzipiertes Atem-Placebo zur Verbesserung der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens hinausgeht." Das bedeute nicht, dass kohärentes Atmen nicht hilfreich sei: "Vielleicht reicht es aber eben schon aus, sich täglich zehn Minuten Zeit zu nehmen, um 'bewusst' zu atmen, unabhängig von einer Technik."
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Auch Finchams Studie hat freilich Schwächen: So wurden die Atemübungen nicht persönlich angeleitet – was wiederum die Wirkung der Atemarbeit geschmälert haben könnte. Zudem beruhen die erhobenen Daten auf Selbstauskünften der Teilnehmenden – Verzerrungseffekte können nicht ausgeschlossen werden.
"Letztendlich hoffe ich, dass meine Arbeit dazu beitragen kann, ein umfassenderes, evidenzbasiertes Bild der psychophysiologischen Effekte und der potenziellen Wirksamkeit von Atemarbeit zu erstellen", zeigt sich Fincham dennoch zufrieden.
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