Ist Mitmenschlichkeit erlernbar?

„Wir alle sind als Menschen gleich und als Individuen unterschiedlich“ 
Die globale Gesellschaft profitiert von einem "zivilisierten Miteinander", das erlernbar ist.

Barack Obama hat die Ungleichheit zwischen Menschen, Staaten und Gesellschaften als "die größte Gefahr für unsere Demokratien" bezeichnet. Der Aufstieg von Rechtspopulisten, Nationalisten sowie autokratischen Herrschern – auch in der EU – bestätigen den ehemaligen US-Präsidenten gespenstisch.

Weltweit nehmen gewaltsame Konflikte und blutige Terror-Attacken zu. Die Lage verschärfen Klimaveränderungen, Hunger und Armut. Die Folgen sind vielfältig: Flüchtlingsströme quer über Kontinente hinweg und Menschen, die sich dadurch in ihrer Identität angegriffen fühlen. Angst, Aggression, Vorurteile und die Ablehnung des Anderen, des Fremden, machen sich breit.

Diese Phänomene nehmen zwei österreichische Wissenschafter zum Anlass, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, nämlich Mitmenschlichkeit.

Peter Gowin und Nana Walzer haben kürzlich ein Buch herausgegeben, das den anspruchsvollen Titel trägt: "Die Evolution der Menschlichkeit. Wege zur Gesellschaft von morgen". 20 Autorinnen und Autoren der verschiedensten Berufe – vom Psychotherapeuten über Arzt, Physiker, Jurist, Künstler bis hin zu Theologen – sind aus jeweils ihrem Blickwinkel und ihrer Erfahrung der Frage nachgegangen, wie mehr Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit entwickelt und gefördert werden kann.

Liebesfähigkeit

Gowin und Walzer geht es darum, das Bewusstsein für das Thema in der Gesellschaft zu verankern und zu vermitteln, was Menschen mit anderen Menschen verbindet: Empathie, Liebesfähigkeit, Kommunikation, die Angewiesenheit auf soziale Beziehungen. Für die beiden steht fest: Mitmenschlichkeit ist erlernbar.

"Der Weg führt vom Verständnis zur Praxis", erklärt Gowin, der in Physik und Psychotherapiewissenschaft promoviert hat. Und er gibt ein Beispiel: "Wenn der Mensch sich überfordert fühlt, etwa von Fremden, von der Heterogenität der Gesellschaft oder von der zunehmenden Globalisierung, reagiert die Psyche und fällt leicht zurück in die archaische Verhaltensweisen von Aggression und Angst.

Wenn man aber versteht, dass der andere nur deswegen anders denkt, weil er in einer anderen Gesellschaft lebt, eine andere Mentalität hat oder mit anderen kulturellen Maßstäben aufgewachsen ist, kann man erreichen, dass die vermutete Feindschaft aufgelöst wird. Aus Hass auf das vermeintlich Feindliche wird dann neutrale Akzeptanz des Anders-Seienden."

Neben dieser persönlichen Komponente verweist Nana Walzer auch auf die gesellschaftliche Ebene: "Wie funktionieren wir miteinander?", fragt die promovierte Kommunikationsexpertin und Trainerin. Es gehe um das Bewusstmachen, in welchem politischen System wir leben wollen: In einer Demokratie auf Basis der Menschenrechte oder unter autoritären Strukturen?

Peter Gowin fügt ganz spontan hinzu: "Meine Referenz ist der erste Mensch, der auf ein Blatt Papier, die Begriffe ,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ geschrieben hat. Dieses unscheinbare Stück Papier mit den drei Worten entfaltete in der Folge eine enorme politische und gesellschaftliche Wirkung."

Die kritische Nachfrage, warum sich die ideale Vorstellung einer friedlicheren Welt bis heute nicht nachhaltig durchgesetzt hat, ebenso die Einsicht, dass es allen Menschen mit der Wahrnehmung und dem täglichen Praktizieren von Mitmenschlichkeit besser gehen könnte, entgegnen beide mit einem Hinweis: "Das zivilisierte Miteinander hat sich durchaus verbessert." Das zeigen unter anderem internationale Dokumente und Abkommen sowie die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, zu denen sich weit mehr als hundert Staaten freiwillig verpflichtet haben.

Globalgesellschaft

Nicht zu vergessen sei auch das Friedensprojekt Europäische Union. "Europa hat jetzt die Chance, ein Modell für eine sich positiv entwickelnde Globalgesellschaft zu werden", betont Walzer.

Ein wichtiger Schlüssel zum Erlernen von Mitmenschlichkeit ist das Verstehen des scheinbaren Widerspruches, wonach "wir alle als Menschen gleich sind und als Individuen unterschiedlich". Das müsse im Dialog vermittelt werden, auch in den verschiedenen Bildungseinrichtungen, verlangt Walzer. Die Herausgeber des Handbuches für mehr Mitmenschlichkeit fordern auch neue Curricula für den Unterricht – vom Kindergarten bis zur Universität –, um zu lernen, miteinander solidarisch umzugehen.

Sie kündigen ein zweites Buch mit eben diesen praktischen Beispielen und Lösungsvorschlägen an, um den Herausforderungen auf globaler, lokaler und individueller Ebene konstruktiv zu begegnen.

"Es geht um die Erkenntnis und die Erfahrung, dass es spürbar Sinn macht, wenn es nicht nur mir selbst, sondern uns allen miteinander besser geht", formuliert Nana Walzer. Und Peter Gowin fasst es kurz und bündig so zusammen: "Der Weg zur Gesellschaft von morgen führt über die Kultivierung von Mitmenschlichkeit. Daran sollten wir festhalten."

Ist Mitmenschlichkeit erlernbar?
Verlag: Braumüller Autoren: Peter Gowin, Nana Walzer / Kostenlose Verwendung nur in Zusammenhang mit einer Buchbesprechung

Peter Gowin/Nana Walzer (Hrsg.): Die Evolution der Menschlichkeit. Wege zur Gesellschaft von morgen. Braumüller Verlag, Wien 2017, ISBN 978-2-99100-201-7, 461 Seiten, 26 €.

Peter Gowin

Ist Mitmenschlichkeit erlernbar?
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Er hat an Universitäten in Wien, Stuttgart und Oxford studiert und ist Philosoph, promovierter Physiker sowie promovierterPsychotherapiewissenschaftler. Peter Gowin (Mag., DDr.) ist Vorstand des Human and Global Development Research Institute (DRI). Das DRI ist ein unabhängiges und gemeinnütziges Forschungs- und Bildungsinstitut mit Sitz in Wien. Das DRI ist im Bereich der globalen Entwicklung im 21. Jahrhundert tätig. Während seiner langjährigen Tätigkeit für die Vereinten Nationen konzentrierte sich Gowin auf verschiedene Schwerpunkte wie Wissensmanagement, Energie und globale Entwicklung.


Nana Walzer

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Sie hat an der Universität Wien Kommunikationswissenschaften studiert (Mag. Dr.). Sie leitet das Center für Angewandte Kommunikation in Wien. Walzer arbeitet als Trainerin, Lektorin und Moderatorin. Thematische Schwerpunkte bilden die Bereiche von Identität und Positionierung, Leadership und Strategie, Change und Emotionen. Sie ist Autorin des Werkes „Die Kunst der Begegnung“, das 2016 in Wien erschienen ist (Braumüller-Verlag). Im Mai 2017 wird ihr neues Buch mit dem Titel „Open Minded Leadership“ vorgestellt werden. Darin geht es um zukunftsweisende Führung.

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