Umstrittener Freispruch: "Wir reden hier von sexueller Ausbeutung eines Kindes"

Der Fall einer 12-Jährigen, deren mutmaßlicher Vergewaltiger freigesprochen wurde, sorgt nicht nur in Österreich für Empörung.
Agota Lavoyer hat das Urteil aus der Schweiz mitverfolgt. Die ausgebildete Sozialarbeiterin ist eine der bekanntesten Expertinnen für sexualisierte Gewalt im deutschsprachigen Raum. Dass das "Nein" des Opfers den Übergriff nicht stoppen konnte, überrascht sie wenig.
"Das Wort einer Frau hat in unserer patriarchalen Gesellschaft schon immer weniger gezählt", sagt Lavoyer. Und betont: "Wir reden hier nicht von Sexualität, sondern von der sexuellen Ausbeutung eines Kindes. Ein Kind muss nicht mal Nein sagen. Sexuelle Handlungen mit einem 12-jährigen Kind sind immer sexualisierte Gewalt."
Für Debatten sorgt auch, dass der mutmaßliche Täter, 17, aus Syrien stammt. Seine Herkunft sollte nicht davon ablenken, dass sexualisierte Gewalt in allen gesellschaftlichen Schichten und Kulturen passiert, sagt Lavoyer. "Man kann aber davon ausgehen: Je patriarchaler geprägt eine Gesellschaft ist, desto mehr geschlechtsspezifische Gewalt wird ausgeübt."

Ist das Gewalt oder gehört das so?
Wenn jugendliche Männer Missbrauch begehen, wird schnell die Frage nach der Rolle von Online-Pornografie laut. Sinkt die Hemmschwelle durch den vermehrten Konsum extremer Inhalte?
"Ich habe schon den Eindruck, dass manches dadurch verharmlost wird", sagt Verena Weißenböck, die als Psychologin und Leiterin der Frauenberatungsstelle TAMAR in Wien mit missbrauchten Mädchen und Jugendlichen arbeitet. "Betroffene können häufig nicht mehr einschätzen, ob das, was ihnen passiert ist, Gewalt war oder nicht. Wenn man manche Pornos im Netz sieht, bekommt man möglicherweise das Gefühl, das gehört so."
Martyrium: Monatelang dauerte das Martyrium des Mädchens. Die damals Zwölfjährige soll von 17 Burschen im Alter von 13 bis 18 Jahren in Wien missbraucht worden sein
Ermittlungen: Seither wird gegen die 17 von der Polizei ermittelt
Kennenlernen im Park: An einem Tag Anfang 2023 lernt das Mädchen den damals damals 15-Jährigen kennen, in einem Park.er ist beliebter Treffpunkt für Jugendliche. Der Bursch winkt sie zu sich, fragt sie nach ihrem Namen. Wenig später tauschen sie ihre Daten über Snapchat aus
Oralsex mit 12: Dieser Horror ereignet sich in einem Parkhaus vor zwei Jahren. Der damals 15-Jährige behauptet: „Ich habe sie mehrmals gebeten. Dann war es freiwillig.“ Sie sagt: „Ich habe mehrmals gesagt, ich will nicht. Er hat meinen Kopf gepackt. Ich habe keinen Ausweg gesehen“
Ermittlungen: Seither wird gegen insgesamt 17 männliche Jugendliche von der Polizei ermittelt
Freispruch: Der nunmehr 17-Jährige aus dem Parkhaus wird am Dienstag dieser Woche von den Vorwürfen vom Landesgericht Wien freigesprochen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig
Viele Frauen und Mädchen würden die Schuld für das Geschehe außerdem bei sich suchen, beobachtet Weißenböck. "Ganz oft übernehmen sie selbst die Verantwortung: Ich wollte zwar nicht, aber ich habe nicht laut genug Nein gesagt. Oder: Ich war ja vorher mit ihm befreundet." Vielfach erfolge die Anbahnung solcher Kontakte über soziale Medien - "Grooming" genannt. "Erwachsene haben ein gutes Gespür dafür, wer gerade einsam ist. Da kann Junge leicht von sich abhängig machen."
"Mythos, dass Frauen Nein sagen und Ja meinen"
Lavoyer warnt davor, Sex-Filme im Netz als alleinigen Auslöser für Gewalttaten zu sehen. In ihrem Buch "Jede_ Frau" (erschienen 2024 bei Yes Publishing) beschreibt sie, wie problematisch die Verharmlosung sexualisierter Gewalt ist - sei es in der Popkultur oder in Medien. Als "verheerend" bezeichnet die Expertin auch die Aussage eines Richters, wonach man sich nach einem "Nein" durch Zärtlichkeiten eben häufig doch noch von Sex überzeugen lasse. "Damit bedient er den Mythos, dass eine Frau Nein sagt, aber Ja meine. Und dass Männer immer weitermachen dürfen."
Der Freispruch könnte für junge Männer eine gefährliche Vorbildwirkung erzeugen, vermutet Weißenböck. "Ich denke schon, dass dieses Wissen weit verbreitet ist, dass einem so schnell nichts passieren kann. Das Gesetz hinkt der Realität hintennach."