Zinsen bleiben auf Jahrzehnte unter Null

Zinsen bleiben auf Jahrzehnte unter Null
Ökonom Helmenstein: 30 Jahre lang negative Realzinsen – er findet das sogar gut.

Der ökonomische Hausverstand weigert sich, die neue Zins-Wirklichkeit widerspruchlos hinzunehmen. Zu sehr laufen Null- oder sogar negative Zinsen der Alltagserfahrung zuwider. Wer Geld spart oder verborgt, soll Strafe zahlen? Wer Schulden macht, wird belohnt? Diese Verdrehung kann doch nicht normal sein – und schon gar nicht von Dauer. Viele Beobachter sind überzeugt: Wenn sich die Wirtschaft erholt, dann wird die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen wieder anheben.

Sicher? Das könnte sich als trügerisch erweisen, sagt Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung, im Gespräch mit dem KURIER. "Die EZB hat nur ein Phänomen vorverlagert, das wir ohnehin gesehen hätten: Das Sinken der Realzinsen, also der Zinsen bereinigt um die Inflation, auf Null." Die Notenbanken könnten nämlich nur kurzfristige Zinssätze beeinflussen. Der mittel- und langfristige Zins werde durch die Marktkräfte bestimmt – also dadurch, wie viele Ersparnisse es gibt, wie groß die Kapitalnachfrage für Investitionen ist und wie hoch die Inflation ausfällt.

Wie lange werden die Realzinsen dann nahe Null bleiben? "Mindestens auf Sicht der nächsten 30 Jahre", sagt Helmenstein. Und das sei nicht einmal eine gewagte Prognose, es entspricht nämlich der aktuellen Erwartung der Finanzmarktakteure.

Ersparnis-Überhang

Für den Einzelnen mag das Geld, das er auf die Seite legt und anspart, ein Sicherheitspolster sein. Aus wirtschaftlicher Sicht ist das aufgeschobener Konsum, der dem Wachstum in der Gegenwart fehlt. Es sei denn, das Ersparte wird "recycled" – und zwar, indem es als Kredit vergeben und somit investiert wird.

Genau da hakt es gerade: "Das Angebot der Ersparnisse übersteigt die Nachfrage wesentlich", sagt Helmenstein. "Damit der Kapitalmarkt im Gleichgewicht bleibt, sinken die Zinsen für sichere Anlagen auf Null." Verantwortlich sind also letztlich fehlende Investitionen – wegen der Abschwächung der Weltwirtschaft (rechts), zu geringer staatlicher Investitionen, zu viel Bürokratie, aber auch wegen des technologischen Wandels: Facebook und Co. brauchen viel, viel weniger Kapital als ein Stahlkocher aus dem 20. Jahrhundert.

Schlechte Nachrichten sind das für Sparer. "Es wird immer schwieriger, Vermögen zu erhalten und über Generationen hinweg weiterzugeben." Dafür erwartet der Industrieökonom eine "neue Wertschätzung unternehmerischer Aktivität". Wenn sich das Geld nämlich nicht von selbst vermehrt, braucht es Unternehmer, die Risiken eingehen und erfolgreiche Güter oder Dienstleistungen erzeugen. Wer auf Dauer positive Kapitalrenditen sehen will, müsse also solche finden. Zinsen sollen aber auch Risiken steuern. Dass das billige Geld zum Zocken (also zu hochriskanter Spekulation) verleitet, hält Helmenstein für ein "Übergangsphänomen" – das lege sich, sobald dauerhaft ein neues Zinsniveau erreicht ist. Die neue Nullzins-Normalität sieht der Ökonom deshalb nicht negativ. Schließlich sei das ein Ideal aller großen Weltreligionen: das Zinsverbot.

Seit Mitte März sind die bei Zinsen endgültig bei Null gelandet. Sie glauben, das wird sehr lange so bleiben. Warum?

Die Europäische Zentralbank hat nur ein Phänomen vorverlagert, das wir ohnehin gesehen hätten: Das Sinken der Realzinsen, also der Zinsen bereinigt um die Inflation, auf Null. Der Grund ist, dass das Angebot der Ersparnisse die Nachfrage wesentlich übersteigt. Damit der Kapitalmarkt im Gleichgewicht bleibt, sinken die Zinsen für sichere Anlagen auf Null.

Wenig Nachfrage nach Ersparnissen heißt: Es werden kaum Kredite nachgefragt. Warum?

Zinsen bleiben auf Jahrzehnte unter Null
Interview mit Dr. Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung, am 09.08.2013 in Wien.
Genau, es fehlt die Kapitalnachfrage für Investitionen. Das liegt teilweise an der Abschwächung der Weltwirtschaft, teilweise an der Überbürokratisierung. Vor allem aber erleben wir einen technologischen Wandel. Der kapitalsparende Fortschritt bewirkt, dass viel weniger Kapital erforderlich ist, um Güter und Dienstleistungen herzustellen, als vor 50 Jahren.

Das heißt: Facebook und Co. brauchen viel weniger Geld, um Gewinne zu erzielen?

So ist es. Wir rechnen mit einem Faktor 1:40. Für jeden Euro, den etwa ein Stahlbetrieb in Anlagen oder Standorte investieren musste, um einen bestimmten Marktwert zu erreichen, kommt ein New-Economy-Unternehmen mit 2,5 Cent aus.

Dieser Wandel vollzieht sich doch schleichend. Warum gerade jetzt die Nullzinsphase?

Seit der Finanzkrise macht sich das verstärkt bemerkbar. Dazu kommt der demografische Alterungsprozess im Westen und in Asien. Und die Marktanteile von New-Economy-Unternehmen nehmen rasch zu.

Die Zinsen bestimmt doch die EZB. Sie könnte sie doch wieder anheben, oder etwa nicht?

Notenbanken können nur kurzfristige Zinssätze beeinflussen, nicht den mittel- und langfristigen Zins. Der wird durch das Ersparnisangebot, die Kapitalnachfrage und die Inflationserwartung bestimmt.

Wie lange werden die Realzinsen nahe oder unter Null sein?

Wenn wir den Inflationserwartungen der Marktteilnehmer Glauben schenken, mindestens auf Sicht der nächsten 30 Jahre. Sprich, für jeden relevanten Investitionshorizont. Meine Hypothese ist: Wir hätten das schon viel früher erlebt, wenn es nicht den Zweiten Weltkrieg mit seiner enormen Vermögensvernichtung gegeben hätte.

Was könnte diese lange Nullzinsphase noch abwenden?

Hinauszögern könnte das nur ein Großereignis wie die Wiedervereinigung von Nord- und Südkorea oder das befürchtete große Erdbeben in Kalifornien. Ich sehe diese neue Normalität der Nullzinsen aber gar nicht negativ. Damit wäre übrigens ein Ideal aller drei großen monotheistischen Religionen verwirklicht: das Zinsverbot, eine Welt ohne Zinsen.

Aber was heißt das für die Geldanlage?

Wir werden eine neue Wertschätzung unternehmerischer Aktivität sehen. Wenn sich Geld nicht von selbst vermehrt, kommt es auf die Bereitschaft zur Übernahme von Risiko und den erfolgreichen Absatz von Gütern und Dienstleistungen an, die Nutzen stiften.

Und was ist mit den Sparern?

Für sie ist das eine schlechte Nachricht. Es wird immer schwieriger, Vermögen zu erhalten und über Generationen hinweg weiterzugeben.

Zinsen sollen Risiken steuern. Wenn Geld nichts kostet, verleitet das nicht zum Zocken, zur hochriskanten Spekulation?

Das ist typischerweise ein Übergangsphänomen. Wenn Zinsen temporär sehr tief fallen, steigen die Bewertungen von Wertpapieren vorübergehend stark an. Wenn aber dauerhaft ein neues Niveau erreicht wird, lädt das nicht zur Spekulation ein.

Auf Dauer lohnt sich das Zocken also nicht?

Um eine nachhaltig positive Kapitalrendite zu erzielen, führt an Investitionen in ein verbessertes Angebot von Gütern und Dienstleistungen kein Weg vorbei.

Jetzt schwächt sich das Wachstum global ab. Müssen wir eine Jahrhundert-Flaute befürchten?

Es ist zu früh, das zu entscheiden. Es gibt gute Argumente, warum wir mit geringeren Wachstumsraten rechnen müssen, von der Endlichkeit natürlicher Ressourcen über den Alterungsprozess bis zu den hohen Verschuldungsniveaus. Fünf Prozent oder mehr globales Wachstum wird es nicht mehr geben, aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass wir schon bei ein oder zwei Prozent pro Jahr angekommen sind.

Warum nicht?

Das würde bedeuten, dass einerseits die Schwellen- und Entwicklungsländer einkommensmäßig uns gegenüber kaum noch aufholen würden und uns andererseits die Kreativität abhanden gekommen wäre. Dafür sehe ich keine Anzeichen.

Die Unternehmen hätten es doch in der Hand, mehr zu investieren. Warum tun sie es nicht?

Wir benötigen komplementäre Investitionen der öffentlichen Hand, damit sich private Investitionen rechnen. Wir beobachten aber seit Jahrzehnten zu hohe öffentliche Transfer- und zu geringe Investitionsaktivitäten.

Das heißt konkret: Weniger Sozialtransfers, dafür mehr E-Tankstellen oder eine zweite Internet-Milliarde?

Das ist sehr zugespitzt, wäre aber der richtige Weg. Sozialtransfers wirken lediglich auf die Konsumnachfrage. Öffentliche Investitionen ziehen hingegen private Investitionen an, die Beschäftigung und somit Einkommen generieren, die dann wiederum zusätzliche Konsumnachfrage schaffen. Wir erzielen also durch öffentliche Investitionen eine gesamtwirtschaftliche Doppeldividende.

Wurden staatliche Investitionen nicht oft als keynesianisches Schuldenmachen gescholten?

Das heißt nicht, dass der Staat Defizite fahren muss. Wir brauchen den Abtausch mit anderen Ausgaben.

Langfristige Investitionen anstoßen: Das war die Idee des sogenannten „Juncker-Plans“ der EU. Warum hebt der nicht ab?

Der Juncker-Plan hat einen äußerst ambitionierten Hebel: Ein öffentlicher Euro soll insgesamt 15 Euro Investitionsvolumen auslösen. Er wird einiges bewegen, aber nicht im erwarteten Ausmaß.

Große Stagnation. Sind wir in einer Phase gelandet, wo akzeptables Wachstum, Vollbeschäftigung und Finanzstabilität nicht mehr unter einen Hut zu bringen sind? Diese Debatte, die 1938 in den USA im Rückblick auf die Große Depression geführt wurde, ist neu aufgeflammt. Mehrere Gründe werden für eine „Jahrhundert-Flaute“ (secular stagnation) ins Treffen geführt.

Endliche Ressourcen

Ein Planet mit begrenzten Rohstoffen kann nicht immer noch mehr produzieren, mahnte der Club of Rome schon 1972.

Alterung

Das Bevölkerungswachstum schwächt sich global ab. Eine alternde Gesellschaft (auch in China) konsumiert weniger, spart mehr.

Ende der Innovation

Es klingt paradox: Trotz des technologischen Fortschritts der letzten Jahrzehnte steigt die Produktivität nicht wirklich an.

Schulden

Viele Studien zeigen: Eine hohe Verschuldung hemmt das Wachstum.

Ungleichheit

Der breite Mittelstand hat Einkommensverluste, eine schmale Elite streift immer mehr ein. Und weiß, überspitzt formuliert, nicht, wohin mit dem Geld.

Geänderter Konsum

Ob Musik, Skier, Autos oder Wohnungen: Besitz ist nicht mehr so wichtig, Ausborgen ist in.

Investitionen

Wo global zu viel gespart und zu wenig investiert wird, geben tiefe Zinsen keinen Anschub mehr.

Kein Ende der Kreativität

Es gibt also gute Argumente, warum wir künftig mit geringeren Wachstumsraten rechnen müssen. Dass die Weltwirtschaft künftig nur um ein oder zwei Prozent pro Jahr zulegt, glaubt Ökonom Helmenstein aber dennoch nicht: „Das würde bedeuten, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer einkommensmäßig kaum noch aufholen. Und es wäre uns die Kreativität abhanden gekommen. Dafür sehe ich keine Anzeichen.“ Stattdessen werde man bei etwa drei, vier Prozent landen - das sei auch langfristig betrachtet die Normalität.

Jene fünf Prozent Wachstum oder mehr, die die Weltwirtschaft zwischen 2004 und 2007 erlebt hatte, werde es aber nicht mehr spielen. Das sei ein Ausreißer gewesen, der durch die erstmals vollständige Integration Chinas und Indiens in die globalen Wertschöpfungsketten erklärt werden könne.

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