Mehr als 450.000 Menschen sind "stille Reserve" am Arbeitsmarkt

Mehr als 450.000 Menschen sind "stille Reserve" am Arbeitsmarkt
Wifo und AK sehen Politik gefordert, Jobhindernisse abzubauen, um Arbeitskräfte zu mobilisieren. Geringfügige Beschäftigung in der Kritik.

In Zeiten großen Arbeitskräftemangels macht es Sinn, die so genannte "stille Reserve" für den Arbeitsmarkt zu mobilisieren. Zu dieser recht heterogenen Gruppe zählen in Österreich rund 312.000 Menschen, die zwar grundsätzlich eine Arbeit suchen, aber derzeit nicht auf Jobsuche sind. Dazu kommen 139.000 Teilzeitkräfte, die gerne mehr arbeiten würden.

In Summe gibt es in Österreich also etwa 451.000 Menschen, die für den Arbeitsmarkt grundsätzlich verfügbar wären. Dies geht aus einer Studie des Wifo im Auftrag der Arbeiterkammer (AK) hervor. Die Studie basiert auf Daten der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung. Damit ist die "stille Reserve" doppelt so groß wie die Zahl der Arbeitslosen mit 221.000 (Jahresschnitt 2022). Jene Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen grundsätzlich keiner Erwerbstätigkeit nachgehen wollen, finden sich nicht in dieser Gruppe.

Größte Gruppe sind Frauen

Die größte Gruppen in der "stillen Reserve" sind Frauen, Migranten, Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen sowie ehemalige Arbeitnehmer/innen, die aus unterschiedlichen Gründen gerade nicht erwerbstätig sind. Bei den Jugendlichen bis 24 Jahren sind es 8 Prozent, die weder in Beschäftigung noch in Ausbildung sind (NEET). Ein Viertel dieser Jugendlichen sucht aus gesundheitlichen Gründen keine Arbeit, ein Viertel der Frauen hat Betreuungspflichten und bei den Männern glauben 31 Prozent, dass sie keine Chance auf einen geeigneten Arbeitsplatz haben. "Männer sind häufiger entmutigt als Frauen", sagt Wifo-Ökonom Helmut Mahringer.

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Was tun, um Arbeitskräfte zu mobilisieren?

"Häufig ist die Aktivierung dieses Potenzials nur mit dem Abbau von Erwerbshindernissen, etwa der Unvereinbarkeit mit Betreuungsaufgaben, mangelnder Kompetenzen, einem Mangel an geeignet ausgestalteten Arbeitsplätze für gesundheitlich Beeinträchtigte oder schlechter Sprachkenntnisse zu erreichen", erläutert  Mahringer. Er empfiehlt aber auch bei der geringfügigen Beschäftigung genauer hinzuschauen. Hier gebe es "Anreizfallen".  "Wir empfehlen die Geringfügigkeitsgrenze zu überdenken und ein besseres System einzuführen", so Mahringer.

AK-Wien-Arbeitsmarktexpertin Silvia Hofbauer weist darauf hin, dass manche Unternehmen ganz bewusst auf Geringfügigkeit setzen, um flexibler sein zu könne. Bei der stillen Reserve gehe es nicht mit Druck. "Das führt nur zu noch mehr Entmutigung. Die Menschen müssen begleitet werden". Sie forderte die Regierung auf, das AMS personell und finanziell so auszustatten, damit die stille Reserve auch gehoben werden können.

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AK: Auch die Unternehmen sind gefordert

Gleichzeitig nehme auch die Aus- und Weiterbildungsbereitschaft der Unternehmen ab. "Aber wer Fachkräfte braucht, muss sie auch ausbilden", so Hofbauer. Es gehe darum, an mehreren Schrauben zu drehen. "Neben guten Arbeitsbedingungen und fairer Bezahlung geht es zum Beispiel auch um die öffentliche Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen, bezahlbaren Wohnraum oder soziale Infrastruktur wie Kinderbetreuung", meinte sie.  AK-Ökonomen Markus Marterbauer appellierte an Regierung und Sozialpartner, in einer eigenen Arbeitsgruppe nach Integrationslösungen für die "stille Reserve" zu suchen.

Die Industriellenvereinigung (IV) meinte dazu, es gelte "positive Leistungsanreize zu setzen". "Inaktivitätsfallen müssen abgebaut werden und jene Menschen, die zur Mehrarbeit bereit sind, müssen belohnt werden", betonte IV-Generalsekretär Christoph Neumayer. Aus Sicht der Industrie sei es entscheidend, Vollzeitarbeit zu attraktivieren, indem man beispielsweise steuerliche Erleichterung schaffe. Neben den noch unausgeschöpften nationalen Arbeitskräftepotenzialen werde es aber allein aufgrund des demografischen Wandels auch qualifizierten Zuzug brauchen, um die Nachfrage nach Personal "ansatzweise decken zu können".

Rolf Gleißner, Leiter der Abteilung für Sozialpolitik in der WKÖ, hielt fest: "Am Ziel, das gesamte in Österreich vorhandene Arbeitskräftepotenzial auszuschöpfen, führt kein Weg vorbei. Aber es ist eine Illusion, dass damit der Arbeitskräftemangel gelöst wäre." Dazu erklärte er: "Eine Arbeit anzunehmen, muss sich lohnen. Die derzeitige Möglichkeit, während dem Arbeitslosengeld-Bezug geringfügig dazuzuverdienen und das zeitlich unbegrenzt, ist hier kontraproduktiv."

Prognose: Zahl der Vollzeitkräfte sinkt weiter

Das Wifo hat auch erhoben, wie sich die Beschäftigung in Österreich bis 2040 entwickeln könnte. Demnach falle bis dahin die Zahl der Vollzeitbeschäftigten um 80.000 Personen, die der Arbeitslosen um 57.000 Personen. Die Anzahl der Teilzeitbeschäftigten wird jedoch um 175.000 Personen steigen. Die Zahl der Pensionisten in der Bevölkerungsgruppe der bis 64-Jährigen gehe um 206.000 zurück. Dafür würden um 35 Prozent mehr Menschen aus gesundheitlichen Gründen nicht am Erwerbsleben teilnehmen. Auch die Zahl der Personen, die ausschließlich geringfügig beschäftigt sind oder aus sonstigen Gründen nicht am Erwerbsleben teilnehmen, werde voraussichtlich sinken: um 17.000 bzw. 93.000 Personen.

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