Lehre: Braucht es noch Auffangnetze?

Überbetriebliche Ausbildung bei Jugend am Werk
Analyse: Aus einer staatlichen Notaktion für Lehrlinge wurde eine teure Dauereinrichtung. Der Erfolg ist umstritten, die Zukunft ungewiss.

Heuer werden 38 Prozent aller Jugendlichen, die die Pflichtschule beendet haben, eine Lehre beginnen. In Wien sind es nur noch 30 Prozent. Obwohl die Zahl der Lehranfänger im Vorjahr erstmals seit vielen Jahren wieder leicht angestiegen ist, zeigt der Langzeittrend weiter nach unten. Geburtenrückgang, Höherqualifizierung und Strukturwandel der Wirtschaft sind die Hauptgründe. Gerne wird übersehen, dass jeder zehnte Lehrling gar nicht in einem Betrieb lernt, sondern in einer mit Steuergeld finanzierten überbetrieblichen Ausbildungsstätte (ÜBA).

Lehre: Braucht es noch Auffangnetze?
KURIER-Infografik

Die in Zeiten des Lehrlingsüberhangs als temporäre Auffangnetze gedachten Einrichtungen sind längst zum fixen Bestandteil der beruflichen Ausbildung geworden. Seit einiger Zeit sinkt jedoch die Geburtenrate und die Jugendarbeitslosigkeit geht zurück. Braucht es da noch eine ÜBA? Der KURIER fasst die wichtigsten Fragen zum Thema zusammen.

Was genau ist die überbetriebliche Lehre?

Jugendliche, die keine reguläre Lehrstelle finden, können nach einer Berufsorientierung als Lehrlinge in eine überbetriebliche Ausbildungsstätte (ÜBA) wechseln. Der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist hoch. Die Ausbildung findet in einer Art Lehrwerkstatt statt und ist Mix aus Gruppentagen, Betriebspraktikum, Berufsschule und sozialpädagogischer Betreuung. Ein Wechsel in einen regulären Lehrplatz oder eine Kombi ÜBA-Betrieb ist möglich, ebenso der Verbleib in der ÜBA bis zum Lehrabschluss.

Was kostet die Ausbildung dem Staat?

Die ÜBA ist die mit Abstand teuerste Ausbildung für Jugendliche bis 18. Laut einer Modellrechnung des ibw kostet der überbetriebliche Lehrling dem Steuerzahler pro Jahr 17.270 Euro und damit drei mal so viel als ein Lehrling im Betrieb. Die Ausbildung in einer AHS oder BHS kostet knapp 10.000 Euro. Allein in Wien fließen heuer 70 Mio. Euro in die ÜBA. Bei erfolgreicher Integration in den Arbeitsmarkt amortisieren sich diese Kosten aber rasch, sagen Experten.

Welche Einrichtungen profitieren vom staatlichen Auffangnetz?

Das AMS schreibt neue Lehrgänge regelmäßig aus, das Geld fließt an Dutzende private Bildungsträger. Die Hälfte aller Ausbildungsplätze stellt das gewerkschaftsnahe Berufsförderungsinstitut bfi. Aktuell sind rund 5000 der insgesamt 9200 ÜBA-Lehrlinge beim bfi untergebracht. Das bfi bietet Lehrabschlüsse in 96 verschiedenen Berufen an.

Wie viel verdienen Lehrlinge in der ÜBA?

Weniger als in einem Betrieb. Im 1. und 2. Lehrjahr bzw. unter 18 Jahren beträgt die Ausbildungsbeihilfe 316 Euro, ab dem 3. Jahr erhöht sie sich auf 731,70 Euro.

Wie sieht die Erfolgsbilanz der vergangenen Jahre aus?

Gemischt. Unbestritten ist: Ohne Auffangnetz wären mehr Jugendliche ohne Ausbildung (Drop-Outs) und damit Job-Perspektiven auf der Straße. "Die ÜBA hat sicher zum Sinken der Jugendarbeitslosigkeit beigetragen", ist IHS-Arbeitsmarktexperte Helmut Hofer überzeugt. Die Erfolgsquote bei den Lehrabschlussprüfungen ist nicht schlechter als der Schnitt, aber nicht alle schaffen es bis zum Abschluss. Weniger gut: Die ursprüngliche Idee, Grundausbildung beim Staat, Fachausbildung im Betrieb, funktioniert nur in Ansätzen.

Mehr als die Hälfte der Lehrlinge bleibt die volle Lehrzeit über in der ÜBA. Viele Unternehmen bieten daher nur noch Praktika und warten lieber auf die Absolventen. Es haben sich – besonders in Wien – viele Betriebe aus der Lehrausbildung ganz verabschiedet, die Zahl der Ausbildungsbetriebe ging binnen zehn Jahren um mehr als ein Viertel auf 29.000 zurück. Die ÜBA hat das Image als "Lehre zweiter Klasse".

Braucht es überhaupt noch ein Auffangnetz?

Die Ansichten divergieren. Die Freiheitlichen wollen die ÜBA ganz abschaffen und stattdessen mit einem "Blum-Bonus-neu" wieder mehr Geld den Ausbildungsbetrieben geben. Die Wirtschaftskammer (WKÖ) will zwar an der ÜBA festhalten, sie aber auf ein Mindestmaß zurückfahren. "Die ÜBA sollte nur noch als Auffangbecken genutzt werden, um Jugendliche von der Straße wegzubringen", sagt WKO-Bildungsreferentin Katrin Eichinger-Kniely, "aber es soll keine Dauereinrichtung für die Lehrlingsausbildung bleiben." Ziel müsse die rasche Weitervermittlung in die Betriebe sein.

Arbeiterkammer und Gewerkschaft sehen hingegen eine dauerhafte Etablierung der ÜBA als "dritte Säule im Bildungssystem" als Gebot der Stunde. Betriebe würden trotz Förderungen nicht ausreichend Lehrplätze zur Verfügung stellen und das Problem der mangelnden Ausbildungsfähigkeit der Jugendlichen sei noch lange nicht gelöst. Experte Hofer sieht die ÜBA als fixen Bestandteil der Ausbildungspflicht (siehe Artikel oben).

Was muss verbessert werden?

Einigkeit herrscht darüber, dass der Praxisbezug verbessert werden muss. Betriebspraktika von zwölf Wochen sind einfach zuwenig. "Vor Eintritt in die ÜBA sollten die Möglichkeiten und Versuche, eine betriebliche Lehrstelle zu finden, noch stärker ausgereizt werden", meint ibw-Bildungsexperte Helmut Dornmayr. bfi-Wien-Chef Franz-Josef Lackinger sieht "zersplitterte Kompetenzen", wenn es um Berufsorientierung und das Nachholen schulischer Defizite geht. Diese Kompetenzen könnten in der ÜBA zentriert werden. Auch neue Berufsbilder könnten leichter umgesetzt werden. "Lehrwerkstätten bieten den Vorteil, dass manches intensiver geschult und ausprobiert werden kann, weil der betriebswirtschaftliche Druck nicht so groß ist."

Jährlich fallen mehr als 5000 Jugendliche aus dem Bildungssystem. Das Risiko, später dauerhaft arbeitslos zu sein, ist hoch. Um diese „Drop-Outs“ besser auffangen zu können, ist seit Juli die so genannte Ausbildungspflicht in Kraft. Ziel: Alle Jugendlichen sollen nach der Pflichtschule eine weiterführende Schule besuchen oder eine berufliche Ausbildung machen. Eine wichtige Rolle sollen dabei auch die überbetrieblichen Ausbildungsstätten spielen.

Für Eltern heißt das: Besuchen die Jugendlichen vier Monate lang keine Schule oder sonstige Ausbildung, erfüllen sie die Ausbildungspflicht nicht. Eltern müssen diesen Umstand melden. Tun sie dies nicht und die Behörden kommen drauf, drohen Strafen bis zu 500 Euro. Bestraft werde aber erst in letzter Konsequenz, heißt es im Sozialministerium.

Alle Infos zur Ausbildungspflicht gibt es auf der Homepage www.ausbildungbis18.at

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