Chinesisches Vorbild
Vorbild ist die App WeChat, die vom chinesischen Konzern Tencent im Jahr 2011 ursprünglich als Messaging-App gestartet und sukzessive um weitere Funktionen erweitert wurde. Heute können mit der Anwendung auch Kredite aufgenommen, Flug- oder Zug-Tickets gekauft und Spitalsaufenthalte angemeldet werden. Selbst als Dating-App kann WeChat genutzt werden. Mehr als 1,4 Milliarden Menschen haben sie auf ihren Handys installiert. Die App, schreibt die BBC, sei so in das Gefüge der chinesischen Gesellschaft verwoben, dass es fast unmöglich sei, in dem Land ohne sie zu leben.
Aber kann die Transformation von X/Twitter zu einer „App für alles“ gelingen? Marktbeobachter sind skeptisch. WeChat sei in einem Land entstanden, in dem die Digitalisierung über das Smartphone stattgefunden hat. Konkurrenz durch Webseiten, Zahlungsdienste oder andere soziale Netzwerke habe es so gut wie nicht gegeben, schreibt der US-Analyst Ben Thompson vom Strategieberatungsunternehmen Stratchery. Auch weil China Konkurrenz aus dem Ausland rigoros unterband. Nach dem Kahlschlag durch Musk könne das Unternehmen darüber hinaus mit den verbliebenen Ressourcen gerade einmal den laufenden Betrieb aufrechterhalten. An eine Erweiterung zur Super-App sei nicht zu denken, befand Thompson.
Datenschutz-Albtraum
Weil mit einer solchen Super-App eine fast lückenlose Protokollierung von Nutzeraktivitäten einhergeht, ist sie für Datenschützer der blanke Albtraum. Konflikte mit Datenschutzregeln, vor allem in Europa, sind vorprogrammiert. Als etwa der schwedische Zahlungsanbieter Klarna vor zwei Jahren einen Vorstoß in Richtung einer solchen „App für alles“ unternahm und auch Einkäufe in Online-Shops und das Verfolgen von Paketen direkt über seine Smartphone-App ermöglichte, hagelte es Beschwerden. Dass Klarna aus den Transaktionen gewonnene Daten für personalisierte Werbung einsetzte, stieß vielen Nutzern sauer auf.
Das Zusammenführen von Daten aus unterschiedlichen Funktionen einer App hält Thilo Weichert vom deutschen Netzwerk Datenschutzexpertise für hochproblematisch. „Laut der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) sind die Funktionen sauber zu trennen“, sagt der Datenschützer. Seien die Funktionen, etwa das Bezahlen und Bestellen oder das Aufnehmen eines Kredits, nicht miteinander gekoppelt und könnten auch separat genutzt werden, sei für den Datenaustausch in jedem Fall eine ausdrückliche Einwilligung der Nutzer erforderlich.
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Dienste würden allerdings versuchen, den Datentausch zwischen den unterschiedlichen Funktionen zu verschleiern. Rechtliche Fragen um solche Super-Apps seien bis heute kaum ausjudiziert, sagt Weichert. Es gebe keine klaren Aussagen der Aufsichtsbehörden und auch keine exemplarischen Entscheidungen der Gerichte. Klarna sei bei Super-Apps in Europa ein Vorläufer gewesen, X/Twitter wäre der große Sündenfall, so der Datenschützer: „Weil Musk ganz offensichtlich den ganzen Datenraum abgrasen will.“
Wenig erfolgreiche Beispiele
In Trendprognosen tauchen Super-Apps zwar immer wieder auf. Erfolgreiche Beispiele gibt es außer in China aber kaum. Allenfalls Rappi in Südamerika oder Grab in Südostasien kommen den chinesischen Vorbildern nahe. In den USA oder Europa gelang es bisher keinem Unternehmen, eine Super-App zu etablieren.
Weichart hält es durchaus für möglich, dass eine solche Super-App auch in Europa reüssieren könnte. Was die Marktakzeptanz angehe, sei der Unterschied zu China nicht so groß. Es gebe sicher viele, die aus Bequemlichkeit, Preisgünstigkeit und fehlendem Datenschutzbewusstsein eine solche App nutzen würden, meint der Datenschützer. Fraglich ist aber, wer eine solche Anwendung überhaupt braucht. Bei vielen Funktionen, die etwa WeChat umfasst, haben sich außerhalb Chinas längst andere Anbieter durchgesetzt. Auf PayPal, Uber, Foodora oder auch Tinder werden viele Nutzer auch nicht mehr verzichten wollen.
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