Twitter heißt jetzt X: Im Irrlauf zur Super-App

Der Abbau des neuen X-Logos vom Dach des Hauptquartiers in San Francisco ist die vorerst letzte Episode einer Reihe erratischer Entwicklungen beim ehemals Twitter genannten Kurznachrichtendienst. Nachbarn waren vom grellen Blinken des protzigen Logos genervt. Weil auch keine Genehmigung für die Errichtung vorlag, wurde es nach nicht einmal drei Tagen wieder abmontiert. Seit Tesla-Gründer Elon Musk im vergangenen Oktober Twitter um 44 Milliarden Dollar übernahm, blieb bei dem Dienst kein Stein auf dem anderen.
Von ehemals 8.000 Mitarbeitern sind gerade einmal noch 1.500 übrig. Das Werbegeschäft brach um die Hälfte ein. Dazu trug vor allem die Zunahme von Hassreden bei, die viele Werbekunden verschreckte. Auch das Abomodell Twitter Blue erwies sich als Rohrkrepierer. Musk gab schließlich die Geschäftsführung Anfang Juni an die in der US-Medien- und Werbebranche erprobte Managerin Linda Yaccarino ab. Mit dem neuen Logo habe man sich von Twitter befreit, sagte die X-Chefin am Donnerstag dem US-Sender CNBC.
Yaccarino soll auch die nächste Stufe in der Transformation des Online-Netzwerkes in die Wege leiten. Mit neuem Namen soll aus Twitter eine Super-App werden. Eine, wie Musk bereits bei der Übernahme des Dienstes ankündigte, „Everything App“ oder „App für alles“. Nutzer sollen damit nicht nur Texte, Bilder und Videos veröffentlichen und sich untereinander austauschen können. Sie sollen über die X-App unter anderem Freunden Geld überweisen, Rechnungen bezahlen und Aktien handeln können. Als erste große Neuerung sollen demnächst auch Videochats über den Dienst möglich sein, kündigte Yaccarino an.
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Chinesisches Vorbild
Vorbild ist die App WeChat, die vom chinesischen Konzern Tencent im Jahr 2011 ursprünglich als Messaging-App gestartet und sukzessive um weitere Funktionen erweitert wurde. Heute können mit der Anwendung auch Kredite aufgenommen, Flug- oder Zug-Tickets gekauft und Spitalsaufenthalte angemeldet werden. Selbst als Dating-App kann WeChat genutzt werden. Mehr als 1,4 Milliarden Menschen haben sie auf ihren Handys installiert. Die App, schreibt die BBC, sei so in das Gefüge der chinesischen Gesellschaft verwoben, dass es fast unmöglich sei, in dem Land ohne sie zu leben.

Elon Musk agierte bei Twitter bisher glücklos, eine Super-App soll das Blatt wenden
Aber kann die Transformation von X/Twitter zu einer „App für alles“ gelingen? Marktbeobachter sind skeptisch. WeChat sei in einem Land entstanden, in dem die Digitalisierung über das Smartphone stattgefunden hat. Konkurrenz durch Webseiten, Zahlungsdienste oder andere soziale Netzwerke habe es so gut wie nicht gegeben, schreibt der US-Analyst Ben Thompson vom Strategieberatungsunternehmen Stratchery. Auch weil China Konkurrenz aus dem Ausland rigoros unterband. Nach dem Kahlschlag durch Musk könne das Unternehmen darüber hinaus mit den verbliebenen Ressourcen gerade einmal den laufenden Betrieb aufrechterhalten. An eine Erweiterung zur Super-App sei nicht zu denken, befand Thompson.
368,4 Millionen
aktive Nutzer pro Monat verzeichnete X/Twitter zuletzt. Tendenz fallend
1,4 Milliarden
Menschen nutzen das chinesische Vorbild WeChat
44 Milliarden
Dollar zahlte Elon Musk im Oktober 2022 für Twitter
20 Milliarden
Dollar ist der Dienst laut dem neuen Eigentümer heute noch wert
Datenschutz-Albtraum
Weil mit einer solchen Super-App eine fast lückenlose Protokollierung von Nutzeraktivitäten einhergeht, ist sie für Datenschützer der blanke Albtraum. Konflikte mit Datenschutzregeln, vor allem in Europa, sind vorprogrammiert. Als etwa der schwedische Zahlungsanbieter Klarna vor zwei Jahren einen Vorstoß in Richtung einer solchen „App für alles“ unternahm und auch Einkäufe in Online-Shops und das Verfolgen von Paketen direkt über seine Smartphone-App ermöglichte, hagelte es Beschwerden. Dass Klarna aus den Transaktionen gewonnene Daten für personalisierte Werbung einsetzte, stieß vielen Nutzern sauer auf.
Das Zusammenführen von Daten aus unterschiedlichen Funktionen einer App hält Thilo Weichert vom deutschen Netzwerk Datenschutzexpertise für hochproblematisch. „Laut der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) sind die Funktionen sauber zu trennen“, sagt der Datenschützer. Seien die Funktionen, etwa das Bezahlen und Bestellen oder das Aufnehmen eines Kredits, nicht miteinander gekoppelt und könnten auch separat genutzt werden, sei für den Datenaustausch in jedem Fall eine ausdrückliche Einwilligung der Nutzer erforderlich.
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„Klarna war in Europa der Vorläufer bei Super-Apps, X/Twitter wäre der große Sündenfall“
Datenschützer
Dienste würden allerdings versuchen, den Datentausch zwischen den unterschiedlichen Funktionen zu verschleiern. Rechtliche Fragen um solche Super-Apps seien bis heute kaum ausjudiziert, sagt Weichert. Es gebe keine klaren Aussagen der Aufsichtsbehörden und auch keine exemplarischen Entscheidungen der Gerichte. Klarna sei bei Super-Apps in Europa ein Vorläufer gewesen, X/Twitter wäre der große Sündenfall, so der Datenschützer: „Weil Musk ganz offensichtlich den ganzen Datenraum abgrasen will.“
Wenig erfolgreiche Beispiele
In Trendprognosen tauchen Super-Apps zwar immer wieder auf. Erfolgreiche Beispiele gibt es außer in China aber kaum. Allenfalls Rappi in Südamerika oder Grab in Südostasien kommen den chinesischen Vorbildern nahe. In den USA oder Europa gelang es bisher keinem Unternehmen, eine Super-App zu etablieren.
Weichart hält es durchaus für möglich, dass eine solche Super-App auch in Europa reüssieren könnte. Was die Marktakzeptanz angehe, sei der Unterschied zu China nicht so groß. Es gebe sicher viele, die aus Bequemlichkeit, Preisgünstigkeit und fehlendem Datenschutzbewusstsein eine solche App nutzen würden, meint der Datenschützer. Fraglich ist aber, wer eine solche Anwendung überhaupt braucht. Bei vielen Funktionen, die etwa WeChat umfasst, haben sich außerhalb Chinas längst andere Anbieter durchgesetzt. Auf PayPal, Uber, Foodora oder auch Tinder werden viele Nutzer auch nicht mehr verzichten wollen.
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