Trendforscher: "Mut in Politik und Wirtschaft ist 2021 gefragter denn je"
KURIER: Wenn Sie eine Zeitmaschine hätten: In welches Jahr würden Sie reisen?
Harry Gatterer: Gute Frage (lacht). Ich stelle die bei Vorträgen auch immer wieder. In der Regel sagen die Menschen, dass sie in die Vergangenheit reisen würden. Und zwar in eine Zeit, in der sie schon gelebt haben. Mich interessiert nur die Zukunft. Aber keine Zeit unter 200 Jahren.
Also würden Sie in etwa in das Jahr 2221 reisen?
In etwa ja. Das wäre faszinierend. Bis dahin ist sicher so viel passiert, dass man sich im ersten Moment nicht auskennen würde. Das wäre sicher ein Flash. Aber man wäre noch anschlussfähig.
Zurück in die Gegenwart. Wie wird das Jahr 2021?
Intensiv und herausfordernd. Bis eine Durchimpfungsrate erreicht wird, die uns eine Rückkehr zum normalen Leben erlaubt, wird das noch dauern.
Was heißt das für Arbeitnehmer und Arbeitgeber?
Das Wirtschaftssystem ist zu komplex, um genau die Verwerfungen vorherzusagen, die durch die Krise entstehen. Wir werden heuer also mit sehr viel Unwissen im Sinne von unbekannt zurechtkommen müssen. Trotzdem dürfen wir aber nicht stehen bleiben.
Müssen wir Angst haben?
Angst ist überhaupt der schlechteste aller Ratgeber. Weil Angst einengt. Und nein: Wir müssen keine Angst haben. Aber wir alle werden uns bewegen müssen. Das Jahr 2021 wird so gesehen überhaupt ein Jahr des unternehmerischen Handelns werden.
Was meinen Sie damit?
Zunächst: Unternehmerisches Handeln heißt nicht, einen Erfolg aus der Vergangenheit zu konservieren. Also noch effizienter werden, noch mehr rationalisieren und noch mehr Mitarbeiter abbauen. Das ist Vergangenheit. Unternehmerisches Handeln bedeutet, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten und daraus die richtigen Chancen abzuleiten.
Wer also jetzt den richtigen Dreh findet…
…bekommt 2021 so viele neue Möglichkeiten und Chancen geliefert, wie dann wohl lange nicht mehr. Denn jetzt ist unheimlich viel in Bewegung. Es entstehen neue Vernetzungen in der Geschäftswelt oder neue Bedürfnisse in der Welt der Konsumenten. Die Ökologisierung unserer Gesellschaft ist ein zentrales Bedürfnis. Die Krise befeuert das. Und wenn vieles in Bewegung ist, können zukunftsorientierte Entscheidungsträger schneller etwas durchsetzen.
Dafür braucht es aber Mut.
Mut in Politik und Wirtschaft ist 2021 gefragter denn je. Wer nur auf Halten und Sicherheit setzt, wird ziemlich sicher falsche Entscheidungen treffen. In der Unternehmenswelt wird da eine Wachablöse beginnen. Die Rationalisierer werden durch Typen mit Kreativität und technologischem Verständnis abgelöst werden.
Klingt fast wie ein Zeitsprung.
Ja (lacht). Corona hat Technologisierung und Digitalisierung endgültig in die Gegenwart geholt. Wer immer noch glaubt, dass Technologie und Digitalisierung in der Zukunft stattfinden werden, wird sich als Privatperson sowie als Unternehmer künftig sehr schwertun.
Was heißt das in der Wirklichkeit der Unternehmen?
Nehmen wir unseren Tourismus. Die einzelnen Regionen stehen da ja in Konkurrenz zueinander. Die bisherige Technologie im Tourismus ist dementsprechend noch immer die Buchungsplattform. Das ist aber Vergangenheit. Die Zukunft im Tourismus ist die datenbasierte Blockchain-Technologie und die Vernetzung der einzelnen Regionen.
Nur zur Sicherheit: Wir sprechen von Tiroler Tourismusbetrieben?
Wenn es die Mölltaler Möbeltischler schaffen, schaffen es die Tiroler Tourismusbetriebe auch (lacht). Im Mölltal haben sich ja mehrere Unternehmer mit universitärer Hilfe technologisch vernetzt. Alle relevanten Daten von der Holzernte, über den Transport, den Schnitt, die Möbelproduktion bis zur Auslieferung werden aufgezeichnet. Das Holz von jedem Möbel kann bis zum Baumstumpf zurückverfolgt werden. Das ist Zukunft.
Ist Tesla für Sie auch Zukunft?
Tesla ist eigentlich nur eine Batterie mit einer Software. Drumherum wird halt eine Hülle gebaut. Und fertig. In der deutschen Autoindustrie gilt hingegen das Fugenmaß als wichtiges Qualitätskriterium. Tesla hat kein Fugenmaß. Kann also sein, dass die Tür ein wenig klemmt. Das ist den Tesla-Käufern aber egal. Das heißt: Tesla erkennt auf jeden Fall die Bedürfnisse der Menschen.
2020 hieß es oft, Corona bedeutet das Ende der Globalisierung.
Die Globalisierung bleibt. Wir werden zwar die regionale Wertschöpfung verstärken, aber die globalen Märkte und Warenströme werden bleiben.
Beginnen wir 2021 endlich mit der Ökologisierung der globalen Ökonomie?
Was mit auffällt: Ökologie und Ökonomie stehen als Feinde gegenüber. Ich habe erst neulich auf einem Umweltschutz-Kongress gesagt: „Hört auf zu kämpfen. Es wird höchste Zeit zu gestalten.“
Woher kommt dieser Kampfmodus eigentlich?
Die Ökologiebewegung begann mit der ersten Mondlandung. Das hat unsere Perspektive verändert. Danach entstanden etwa Greenpeace oder der Club of Rome. Wir haben seither eine Tradition des Kampfes für die Natur. Dieser Kampf hat durchaus Früchte getragen. Jetzt müssen wir aber vom Kampfmodus in den Modus der gestalterischen Dynamik umschalten.
Und die Wirtschaft?
Die ist per se ja weder gut noch böse. Sie funktioniert nur nach einem einfachen Grundprinzip. Sie eruiert Knappheiten und versucht mit daraus folgenden Lösungen die Bedürfnisse der Konsumenten zu befriedigen. Jetzt wird Natur zu einem knappen Gut. Da liegt die Chance, Wirtschaft und Ökologie zu vernetzen. Etwa mittels Umwelttechnologie.
China gilt als Krisengewinner. Werden 2021 die westlichen Demokratien die Verlierer sein?
Krise ist immer die Zeit der Hierarchie. Weil sie Komplexität verringert. Weil sie Entscheidungen rascher ermöglicht. In der Komplexität der Welt, in der wir leben, ist die Hierarchie aber nicht die Zukunftslösung. Die ist nur die Lösung in einer Krise. Aber in der Zukunft werden totalitäre Systeme nicht die stabilen Systeme sein.
Welche Systeme denn dann?
Jene Systeme, die verstehen, vernetzt und komplex zu agieren und in denen sich Kreativität entfalten kann. Schließlich geht es darum, nicht Systemen zu dienen, sondern den Menschen. China hat supertolle Smart-Cities, wo alles vernetzt und überwacht ist. Aber wollen Sie dort leben?
In den USA findet 2021 ein Machtwechsel statt. Das Land hat mit enormen sozialen Problemen zu kämpfen. Steuern die USA auf einen Abgrund zu?
Meine Vermutung ist: Nein. Weil das Land über einen einzigartigen unternehmerischen Grundspirit verfügt. Und die USA beheimaten nach wie vor die großen globalen Leitbetriebe für die nächsten zehn bis 15 Jahre. Das wird für eine enorme Dynamik sorgen.
Und wo steht da Europa?
Die Gegenwart ist dominiert von einer Technologie, die in den USA entwickelt und von den Asiaten erfolgreich kopiert und adaptiert wurde. In Sachen Technologie ist da jedenfalls nichts mehr aufzuholen. Der Zug ist längst abgefahren. Die Zukunft Europas liegt woanders. In der Ökologie und in der Rolle des Menschen in einer kreativen Umwelt. Sehen Sie sich nur den Gesundheitssektor an. Der erste Impfstoff kommt aus Europa.
Hat der Nationalismus in Europa noch eine Zukunft?
In Zeiten der Krise mögen hierarchische Strukturen wie etwa das System Orban im Aufwind sein. Die Zukunft ist das aber nicht. Bei unseren Studien in den vergangenen Jahren sehen wir ganz klar, dass rund ein Fünftel der Jugendlichen bereits ein globales Bewusstsein hat. Trend steigend. Das ist viel und eine Entwicklung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Diese Generation wird schon europäisch denken.
Nach Österreich. Wie sieht es da in der Zukunft aus?
Österreich hat den Luxus, in Europa einfach ein wenig dabei sein zu können. Wir haben jedenfalls eine gute Ausgangsposition. Wo wir uns ein wenig im Weg stehen, ist der oft von der Politik verkündete Ansatz, Spitze sein zu müssen. Das muss nicht sein. Wir sind auch so gut. Schön wäre nur, wenn die Politik quer durch alle Parteien aufhören würde, kleinteilige Partikularinteressen zu vertreten.
Womit wir bei der Förderkultur wären.
Gegen Förderungen ist an sich nichts einzuwenden. Wenn man im Tourismus Blockchain-Technologie unterstützen würde, wäre das ein Fortschritt. Aber nicht die nächste Seilbahn. Der Zukunftstourismus ist Resonanztourismus. Die Menschen sehnen sich nicht nach noch mehr Erlebnis auf dem Berg, sondern nach mehr Erlebnis mit dem Berg – sprich mit der Natur.
Aber ein Investment in eine Seilbahn klingt nicht so abstrakt wie ein Investment in eine Software.
Deshalb sollte man eine Investition in eine Software als Wert in einer Bilanz deklarieren können. Dann hätte man sofort einen attraktiven Standort für Software-Entwicklung. Solange man aber die Software-Entwicklung nur als Aufwand verbuchen kann und man damit keinen Wert erzeugt, wird hierzulande kein Unternehmer ein Software-Netzwerk auf die Beine stellen.
Und beim Thema Gesundheit?
Da könnte sich Österreich gemeinsam mit den anderen Staaten der Alpenregion überhaupt als globales Gesundheitszentrum weiterentwickeln. Vernetzt mit der entsprechen Forschung und Entwicklung und der Unterstützung für die Leitbetriebe im Gesundheitswesen.
Damit könnte man 2021 schon beginnen?
Unbedingt. Jetzt wäre dafür der richtige Zeitpunkt. Zukunft bedeutet aber Entscheidung. Da sind wir wieder beim Mut. Dabei kann Österreich gar nicht so viel falsch machen. Wir müssen halt nur das Richtige tun.
Wo liegen wir nicht richtig?
Zwei Dinge beschäftigen mich da. Erstens: Wir investieren Milliarden ohne Zukunftsbilder in die Wiederherstellung einer Normalität, von der wir nicht wissen wie sie aussehen wird. Zweitens beunruhigt mich der Status im Bereich Bildung. Bildung ist noch immer ein Auswendiglernen von Informationen. Corona hat da ein großes Strukturdefizit aufgezeigt.
Das da wäre…?
Das größte Problem sind nicht die fehlenden Laptops, sondern das komplette Fehlen von selbstorganisiertem Lernen. Weder die Lehrenden noch die Lernenden können selbst organisiert Inhalte vermitteln beziehungsweise erlernen. Dabei wäre das gerade jetzt wichtig. An den Schulen müssten außerdem jetzt die Themen Ökologie und Ökonomie vernetzt werden. Und zwar nicht in der alten Feindbild-Konstruktion, sondern als kreative Wertschöpfung für die Zukunft. Ich sage es ganz einfach: Selbstständiges Denken und Erlernen müsste man heute als eigenes Fach einführen.
Aber Österreich mit seinem Föderalismus und Partikularinteressen: Geht da Reform überhaupt?
Diese Strukturen behindern einander in der Tat vielfach. Wir sind eine Absicherungsgesellschaft. Niemand unternimmt etwas, um nicht von jemand anderem eine auf den Deckel zu bekommen. Da fehlt der Mut und der Fortschrittswille. Das hat mit der Kleinheit des Landes zu tun. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns europäischer machen. Also nicht aus der Wiener Perspektive über Reformen nachdenken, sondern aus der europäischen.
Zur Person:
Geboren 1974 in Kufstein, machte Harry Gatterer die Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Bereits mit 20 Jahren gründete und leitete er einige Jahre lang ein Möbel- und Einrichtungsgeschäft in Tirol. Die unternehmerische Praxis führte ihn erst zum Design dann zur Trendforschung. Seit 2002 ist er als Trend- und Zukunftsforscher tätig. Von 2007 bis 2010 war er auch Bundesvorsitzender der Jungen Wirtschaft. 2010 baute er das Büro des Frankfurter Zukunftsinstituts in Wien auf. Seit 2017 ist Gatterer Mehrheitseigentümer des Zukunftsinstituts.
Kommentare