Sie machen sich für eine Pensionsreform mit kapitalgedeckten Elementen stark. Trauen sie ÖVP, SPÖ und Neos neben der Konsolidierung die Kraft für solch ein Mega-Projekt zu?
Der Ansatz müsste ihnen eigentlich liegen. Voraussetzung ist, dass ideologische Hürden genommen werden und einige in den Parteien ihre notorische Angst vor dem Kapitalmarkt aufgeben, die wirklich schädlich ist für die Vermögensbildung in diesem Land. Den großen Wurf traue ich ihnen nicht zu. Aber zumindest einige Reparaturen bei der staatlichen Säule und vor allem bei der betrieblichen Säule. Da sehe ich eine echte Chance.
Woran denken Sie?
Die zweite Säule zu verbessern ginge relativ schnell. Man hätte hier die Chance, über den Kapitalmarkt etwas aufzubauen, das alle Pensionsdebatten der Zukunft wesentlich erleichtern würde. Wenn wir es nämlich schaffen, über die Pensionskassen ein Vermögen für den breiten Mittelstand der Arbeitnehmer in diesem Land aufzubauen. Derzeit haben wir etwas über eine Million Anspruchsberechtigte bei den Pensionskassen bei mehr als vier Millionen Arbeitnehmern. Das ist viel Luft nach oben.
Neos unterstützen das, bei ÖVP und SPÖ bin ich mir nicht mehr so sicher.
Gerade ÖVP und SPÖ müssten realisieren, warum sie so schwach in diese Regierungsbildung gekommen sind. Beide Parteien haben massiv Stimmen verloren und haben diese Stimmen massiv im Mittelstand verloren. Vor 30 Jahren, als SPÖ und ÖVP noch die stärksten Parteien in Österreich waren, hat es sich zum Beispiel ein Polizist leisten können, ein Haus zu bauen. Jetzt braucht ein Polizist nicht einmal davon träumen. Außer er hat geerbt.
Defizitverfahren – ja oder nein? Müsste die Frage nicht lauten: Wo kommt neues Wachstum her, wo die Wettbewerbsfähigkeit?
Das ist ein Zustand, der sehr typisch ist. Wenn Politiker keine großen Ideen oder Pläne haben, fangen sie an, über Nebensächlichkeiten zu reden. Bei dem Zustand, in dem sich das Land befindet, ist „Defizitverfahren – ja oder nein?“ als Frage wirklich bestürzend.
Wir hatten lange eine der höchsten Inflationsraten in der EU, haben schon länger kein Wachstum, dafür einen sehr hohen Anstieg der Lohnstückkosten. Wann haben wir das versemmelt?
Wir haben meiner Meinung nach im Jahr 2008 (Bundesregierung Faymann I; Anm.) begonnen, es zu versemmeln. Das war ein klarer Bruchpunkt. Damals wurde mit einer Politik begonnen, die sich nur noch an Umfragen orientiert, womit man beim Wähler am besten ankommt und die sich nicht mehr darum schert, was das Beste für Österreich ist. Die Speiseeis-Geschichte.
Welche Eisgeschichte?
Die geht so: Immer, wenn meine Kinder lästig sind, bekommen sie einen Eisschlecker. Jeden Tag. Wenn sie nach dem siebenten Eisschlecker am Ende der Woche noch immer böse sind, habe ich nichts mehr zu verteilen. Die Kinder sind noch immer böse, aber die Eltern, also die Politiker, haben nichts davon, sie werden einfach nicht mehr gewählt – Folge der Eisschlecker-Politik.
So ergeht es dem Populismus. Aber etwas ganz anderes: Länder wie Indien, China, USA galoppieren davon, Europa hinkt massiv hinterher. Was tun gegen den Bedeutungsverlust?
Den Bedeutungsverlust sehe ich nicht als Hauptproblem. Europa war immer etwas Besonderes. Wir waren sehr erfolgreich und haben die sozial ausgeglichenste Gesellschaft. Das war der europäische Weg, den wir gegangen sind, und den wir in dieser Form schlicht und ergreifend nicht mehr fortführen können.
Warum nicht?
Wir haben unsere Verteidigung nach Amerika ausgelagert, unsere Energieversorgung nach Russland und die Produktion nach China. Jetzt hat China billige Arbeit und Technologie, Amerika hat Kapital, Technologie und Energie, und wir haben weder Energie, noch Kapital, noch billige Arbeit. Die einzige Chance ist, aus Europa wirklich ein Europa zu machen mit einem wirklich gemeinsamen Markt für Kapital, Energie, Digitales etc.
Also die Vervollständigung des Binnenmarktes …
Ich sage jetzt etwas sehr Unpopuläres. Der Ursprung des amerikanischen Aufholprozesses liegt in der Verteidigungsindustrie, ob Kommunikation oder Digitalisierung, alles kommt von dort. Unser wichtigstes Thema in Europa ist, dass wir unsere Grenzen gegen Russland oder wen auch immer, eigenständig, ohne Hilfe der Amerikaner schützen können. Mit oder ohne NATO. Dazu müssten wir eine europäische Verteidigungsindustrie aufbauen. Europa hat 140 Milliarden Euro an Waffen an die Ukraine geliefert. Davon mussten wir 80 Prozent importieren. Mit Airbus haben wir auch bewiesen, dass etwas Großes entstehen kann, wenn wir nur wollen und unsere Ressourcen zusammenlegen.
Aufrüsten gegen den Abstieg?
Das ist keine Aufrüstungsfantasie, sondern ein Realisieren, dass sich die Welt dramatisch verändert hat. Wir könnten eine starke, unabhängige Verteidigungsindustrie aufbauen. Wir könnten irgendwann wieder in Frieden mit Russland leben, und wir könnten auch wieder günstiges russisches Gas beziehen. Das politisch durchzubringen, ist extrem schwierig, könnte aber eine Aufbruchstimmung erzeugen.
Auch im Bankenbereich sind neue Riesen vorstellbar, die Europa aus dem Wachstumsloch holen könnten. Deutsche Bank mit den Sparkassen, Unicredit mit Commerzbank. Aber wo bleibt da Österreich?
Auch da könnte Österreich eine große Rolle spielen. Die Erste Group ist eine sehr erfolgreiche Bank mit Sitz in Österreich und spielt in der obersten Liga mit. Auch von einer Kapitalmarktunion würde Österreich, würden alle EU-Länder dramatisch profitieren.
Zur Zeit sieht es anders aus. In Berlin ist die Ampel zerbrochen, in Frankreich wachsen die Schulden in den Himmel, Trump wird mit uns Schlitten fahren …
Was aus Amerika auf uns zukommt, ist tatsächlich etwas, mit dem wir sehr ernsthaft werden umgehen müssen. Da kommt eine extrem kapitalistische Welle auf uns zu. Donald Trump arbeitet mit einigen der größten Unternehmer der Welt zusammen, die sagen: alles nach Amerika, alles für Amerika. Da steht eine enorme Finanzkraft dahinter. In Europa haben wir keinen Elon Musk und keinen Jeff Bezos – aber die Finanzkraft, um Europas eigene Innovationen zu stärken, haben wir auch. Bei uns liegen Tausende Milliarden herum, die unproduktiv eingesetzt werden oder nach Amerika abfließen.
Sie waren von 1997 bis 2020 CEO der Erste Group und haben alle Höhen und Tiefen vom Euro bis zur Finanzkrise an vorderster Front miterlebt. Wo ist Europa auf seinem langen Weg die Luft ausgegangen?
Das hat sich langsam eingeschlichen. Wir haben vergessen, dass wir ein Klima erzeugen müssen, in dem die arbeitende Bevölkerung und die Wirtschaft mit Freude in die Zukunft blicken kann. Unter Wolfgang Schüssel gab es die letzte Pensionsreform. Da ist mehr als 20 Jahre her, seither hat sich niemand mehr etwas getraut. Und die Situation wird jedes Jahr ernster. Aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Wir sind 2025 nicht dümmer als 2015 oder 2005. Man kann über die Qualität der handelnden Personen reden und wird Verbesserungspotenzial sehen. Aber wir können es noch immer, wir müssen es nur tun. Ganz dringend wäre jetzt halt eine Regierung, die Österreich wirklich nach vorne bringen will und der es egal ist, ob sie dafür in fünf Jahren abgewählt wird.
ZUR PERSON
Andreas Treichl (72)
ist Aufsichtsratsvorsitzender der Erste Stiftung, die zu den größten gemeinnützig tätigen Stiftungen in Zentral-, Süd- und Osteuropa zählt. Als langjähriger Vorstandschef (CEO) hat er die Erste Group bis 2020 zu einer der führenden Banken in der Region gemacht. Zuletzt war er Präsident des Forum Alpbach. Von 1991 bis 1997 gehörte er als Finanzsprecher der Partei dem Bundesparteivorstand der ÖVP an. Er ist mit Desirée Treichl-Stürgkh verheiratet und hat drei Söhne.
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