Top-Lobbyist: "Europa trägt die Hauptlast der Sanktionen"
Wird Russlands Präsident Putin Europa den Gashahn völlig zudrehen? Mit großer Sorge sieht die europäische Industrie einer drohenden Gasknappheit im Winter entgegen. „Oberste Priorität für uns ist es, Abschaltungen zu vermeiden“, sagt Markus Beyrer, der Generalsekretär des europäischen Industriedachverbandes BusinessEurope im Interview.
KURIER: Wie stellt sich die Industrie in Europa auf das schlimmstmögliche Szenario ein – auf einen russischen Gasstopp?
Markus Beyrer: Einschränkungen der Produktion und zwangsweise Zuteilungsreduktionen sollten unbedingt vermieden werden. Um das zu erreichen, sollten Marktanreize gesetzt werden, den Gasverbrauch, wo möglich, rechtzeitig zu reduzieren damit die Speicher für den Winter möglichst voll sind.
Also Abschaltungen unbedingt vermeiden?
Das hat oberste Priorität für uns. Wenn man industrielle Produktion abschalten muss, ist das mit exorbitanten Kosten verbunden. Oft kann die Produktion nicht so einfach wieder hochgefahren werden. Zudem weiß man nicht, was das in der Wertschöpfungskette auslösen würde. Das wären alles gleichsam Operationen am offenen Herzen.
Was, wenn es zur Frage kommt, lieber Wohnungen warm zu halten oder doch Industrie-Betrieb weiterlaufen lassen?
Wichtig ist, viele Maßnahmen möglichst früh zu setzen, sodass der schlimmste Fall gleich gar nicht erst eintritt. Da müssen alle ihren Beitrag leisten: Es geht um ein Mosaik. Was wirklich passieren wird, wenn für alle zu wenig Gas da ist, lässt sich derzeit nur schwer beantworten. Zum Beispiel Spitäler müssen immer als erstes versorgt werden. Letztlich ist es eine staatliche Aufgabe, Prioritäten zu setzen. Ich beneide die Regierungen nicht darum, die diese Entscheidungen umsetzen müssen.
Wie kann sich die Industrie nun vorbereiten?
Zum einen wird versucht Gas aus anderen Quellen zu beziehen. Zum anderen muss man prüfen wo Industrie-Produktion auf andere Energieträger umsteigen kann. Das geht nicht überall und ist schwierig: Wenn ein Unternehmen Öl statt Gas verwenden würde, sind das Investitionen, die vorher regulatorischer Sicherheit bedürfen. Nämlich jener, dass man diese Anlagen dann auch weiterhin betreiben kann. Stichwort: Planbarkeit und Investitionssicherheit.
Man wird den Unternehmen bei diesen Umstellungen helfen müssen. Das sind sehr hohe Kosten. Der langfristige Weg aus der Abhängigkeit von Gas wird aber natürlich über mehr Energieeffizienz und mehr erneuerbare Energie führen.
Das wird aber alles recht lange dauern…
Bis wir mit den Erneuerbaren so weit sind, brauchen wir jetzt eine fossile Übergangsstrategie. Das bedeutet zum einen Teil Gas-Importe, etwa aus den USA oder Norwegen, und zum anderen Produktionsumstellung, sowie Nutzung unseres eigenen Potenzials.
Dänemark hat aus Klimaschutzgründen seine Gasproduktion heruntergefahren. Jetzt wird die Produktion wieder hochgefahren. Es gibt Hoffnungen auf das Gasfeld im niederländischen Groningen, auf die Vorkommen im Schwarzen Meer. Und das heißt aus meiner Sicht auch Schiefergas.
Also Fracking?Ja. Ich möchte mich weder in die österreichische Debatte noch in die Entscheidung von Unternehmen einmischen. Ich meine das nicht zynisch: Auch wenn wir glücklich sind, dass wir amerikanisches Flüssiggas erhalten, das über den langen Seetransport nach Europa gebracht wird, dann halte ich es in der jetzigen Lage für legitim, sich zumindest näher anzusehen, welche Ressourcen wir selbst in Europa haben.
Markus Beyrer (56)
ist seit zehn Jahren Generaldirektor von BusinessEurope, dem mächtigen, in Brüssel situierten Dachverband europäischer Industrie- und Arbeitgeberverbände. Der gebürtige Niederösterreicher war zunächst Wirtschaftsberater von Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP), danach sieben Jahre lang Generalsekretär der Österreichischen Industriellenvereinigung (IV) und kurz Chef der damaligen Verstaatlichten-Holding ÖIAG.
40 Mitgliedsverbände
aus 35 Ländern hat BusinessEurope. Aus Österreich: Die Industriellenvereinigung.
Es gibt mittlerweile Möglichkeiten, wo man wesentlich umweltschonender Gas aus Fracking gewinnen kann als es in den USA passiert. Stichwort: Green fracking. Wir befinden uns in einer extrem heiklen Multi-Krise, in der man nicht alle alten Tabus, die wir bisher gepflegt haben, immer mitschleppen kann.
Sie fordern mehr Flexibilität in Krisenlage wie jetzt ein, das könnte mit bisherigen Umweltauflagen kollidieren…
Wir müssen einfach alles durchforsten und schauen: Wo habe ich Potenziale, die ich nutzen kann? Wenn zum Beispiel 20 Prozent mehr Kapazität in der Wasserkraft gewonnen werden könnten (Stichwort Wasserahmenrichtlinie), dann wird man möglicherweise in einem Krisenjahr wies diesem den Kröteneiern eine etwas niedrigere Priorität beimessen.
Das ist eine Maßnahme, die sich eine umweltfreundliche Gesellschaft in normalen Zeiten leisten soll. Aber in einem Krisenjahr wie diesem muss man sich auch die Frage stellen: Was ist das höhere Gut?
Sind vonseiten der Industrie Forderungen zu hören, die Sanktionen gegen Russland zu beenden?
Wir haben von Anfang an klar gemacht, dass wir hinter den Maßnahmen stehen. Wir tragen die Sanktionen mit und versuchen, uns bestmöglich aufzustellen, sodass sich alle Unternehmen daranhalten können. Wir erwarten aber, dass die Sanktionen zielgerichtet sind und uns nicht mehr schaden als jenen, gegen die sie sich richten. Jetzt wird über ein siebentes Sanktionspaket gesprochen, aber bei dieser Debatte stößt man jetzt an die Grenzen.
Dabei geht es möglicherweise um einen Ölpreisdeckel. Wobei ich nicht sicher bin, ob alle so genau wissen, wie das technisch gehen soll. Und ein europäisches Embargo gegen Gas ist absolut außerhalb des Diskussionsrahmens. Das ist eine naive Herangehensweise zu glauben, man könne das Gas von unserer Seite her abdrehen. Die Auswirkungen auf Europa wären massiv negativ: Es würde uns selbst mehr schaden als Russland.
Schaden die Sanktionen, so wie sie sind, uns nicht schon jetzt mehr als Russland?
Natürlich schaden sie uns auch - uns Europäern noch mehr als anderen Verbündeten. Die europäische Wirtschaft trägt die Hauptlast der Sanktionen. Es ist aber wichtig, dass man hier gemeinsam steht, die Zusammenarbeit mit den Amerikanern, mit den Japanern und den anderen G7 Staaten funktioniert gut.
Kann man den Schaden beziffern, den die Industrie in Europa seit den Sanktionen genommen hat?
Man kann den Schaden nicht auf die Sanktionen allein reduzieren. Aus der Pandemie schleppen wir noch diverse Probleme mit, auch über Wertschöpfungsketten, weil die Chinesen ihre Häfen zumachen. Und jetzt auch noch der Krieg in der Ukraine.
Alle diese Faktoren führen zu weiteren Störungen der Lieferketten, zu massiv steigenden Energiepreisen, zu einer galoppierenden Inflation, zu Knappheiten bei Rohstoffen, Arbeitskräften, Knappheiten im Transportsektor.
All diese Dinge multiplizieren sich gegenseitig und bedeuten in Summe einen gewaltigen Schaden für die europäische Wirtschaft. In unserer jüngsten Prognose haben wir ermittelt, dass das Produktionswachstum dieses Jahr nur bei 0,6 Prozent liegen wird. Das ist ziemlich mager und das heißt, es wird real in dem einen oder anderen EU-Mitgliedstaat zu einer Rezession kommen.
Gibt es eine Strategie damit umzugehen, einen Ausweg aus dieser multiplen Krise?
Wir können die Wirtschaft nicht ständig mit neuer Bürokratie belasten oder mit Einschränkungen, die andere Teile der Welt nicht haben. Ein Beispiel: Die Industrie-Emissions-Direktive der EU-Kommission, das ist für uns völlig unverständlich, warum man sie gerade jetzt vorgeschlagen hat.
Zudem sehen wir angesichts der Probleme in den Wertschöpfungsketten, dass man diversifizieren muss - da bin ich jetzt bei den Freihandelsabkommen. Wir haben eine ganze Menge Verträge fertig, die man jetzt nur ratifizieren müsste: Der Vertrag mit Chile ist fertig, Mexiko ist fertig, Mercosur ist fertig. Das sind alles Dinge, die notwendig sein werden, um unsere Beschaffungsseite, aber auch um die Absatzmärkte zu diversifizieren.
Also mehr Handel statt weniger, statt decoupling?
Nicht notwendigerweise mehr Handel, sondern anderer Handel: Das Zauberwort aus unserer Sicht lautet Diversifikation. Wir werden mehr Handel mit ähnlich gesinnten Staaten wie wir treiben. Aber das wird nicht reichen. Wir können nicht nur mit lupenreinen Demokratien Handel treiben.
Wie wir derzeit mit Russland agieren, ist richtig.
Mit China wird man einen Weg finden müssen. Trotz aller Risiken werden wir mit China kooperieren müssen in verschiedenen Bereichen, weil ein decoupling von China relativ unrealistisch ist.
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