Ein Fünferpack Lesebrillen für 3,56 Euro, ein Badvorleger für 2,63 Euro, Bluetooth-Kopfhörer, die dem Original verblüffend ähneln, für 11,20 Euro. Auf der Onlineplattform Temu ("Tee-mu“) gibt es scheinbar nichts, was es nicht gibt. Nur normale Preise, damit wartet die App nicht auf.
Seit April ist der Online-Händler in Europa aktiv. Die App belegt seit Wochen die vordersten Plätze der österreichischen Downloadcharts. Dass chinesische Schnäppchenportale hierzulande ziehen, haben bereits die Konkurrenten Shein ("Schi-in") und Aliexpress unter Beweis gestellt. "Wir verfolgen seit einigen Jahren, dass chinesische Anbieter immer mehr nach Europa vordringen", bestätigt Karl Gladt von der Internet Ombudsstelle. Was macht den Reiz aus – und wo ist der Haken?
Temu stellt nur die Plattform
Da wären zunächst die Vorzüge: In Handelskreisen gilt Temu als Innovation in den Bereichen Lieferkette, Warenmanagement und Logistik. Auf der Plattform verkaufen kleinere und größere Händler aus China unter anderem Kleidung, Haushaltswaren oder Elektrogeräte. Per Flugzeug kommt die Ware direkt aus der Fabrik. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) spüren die Händler neue Produkttrends auf - und können so innerhalb kürzester Zeit darauf reagieren.
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Der Algorithmus erledigt den Rest. Gladt: "Die Anbieter tracken, wie man die App nutzt, welche Produkte man sich genauer ansieht und erstellen auf Grundlage dessen ein Nutzerprofil." Im Vergleich zur Konkurrenz lockt Temu außerdem mit einem gewaltigen Vorteil: Der Versand aus China ist kostenfrei - auch die Einfuhrumsatzsteuer ist schon inkludiert, die Rücksendungen ebenso. Um Zollgebühren (ab 150 Euro Warenwert) zu entgehen, wird die Ware oft auf mehrere Pakete aufgeteilt.
Dafür nimmt Temu jährlich einen millionenschweren Verlust in Kauf. 30 US-Dollar soll das Unternehmen laut Recherchen von Wired pro Einkauf verlieren - und das nicht ohne Kalkül. "Temu geht es darum, möglichst schnell seinen Marktanteil zu vergrößern und immer mehr Kunden zu erreichen und dann das Geschäftsmodell langsam in eine profitable Richtung zu ändern", erklärt Gladt. "Dann werden vermutlich die Produkte langsam teurer." In den USA wird die China-App bereits als Amazon-Konkurrent gehandelt.
Rechtsdurchsetzung ist schwierig
Doch die App hat Schattenseiten. "Die Zustellung dürfte schlampig erfolgen. Wenn Ware verloren geht, fordert Temu weiterhin den Kaufpreis", berichtet Gladt. Weil der Kaufvertrag mit den einzelnen Händlern zustande kommt und nicht mit Temu selbst, ist die Rechtsdurchsetzung schwierig bis unmöglich. Dass die meisten Händler ihren Sitz in China haben, "macht die Situation nochmals undurchsichtiger", warnt das Österreichische Institut für angewandte Telekomunikation (ÖIAT).
Die anhaltende Popularität der App erklärt sich Gladt mit Temus aggressiver Marketingstrategie. Auf Instagram oder Tiktok werden Nutzer mit Werbung und Spielen bombardiert. Gladt: "Das Einkaufserlebnis dockt organisch an Social Media an." Wer die App erfolgreich weitervermittelt, bekommt Provision. Über Gruppeneinkäufe kann man nochmal Geld sparen. Der chinesische Begriff dafür ist zugleich der Name von Temus Schwester-App in China: Pinduoduo. Der Mutterkonzern PDD Holdings Inc. mit Sitz in Shanghai ist derzeit der drittgrößte Chinesische Onlinehändler. Die Tochtergesellschaft Temu hat den Sitz in Boston, Massachusetts.
Dort hat Temu zuletzt den Rivalen Shein wegen Kartellverstößen verklagt. Gleichzeitig wirft eine US-Kommission Temu vor, potenziell unter Zwangsarbeit hergestellte Waren zu vertreiben. Temu und Shein sehen sich auch mit Vorwürfen des Verstoßes gegen das Handelsrecht, des Einsatzes gesundheitsschädlicher Materialien, Datenmissbrauchs und des Diebstahls geistigen Eigentums konfrontiert. Laut Recherchen von CNN kann die Temu-App Sicherheitseinstellungen auf Smartphones umgehen. Die Schwester-App Pinduoduo wurde inzwischen von Google als "Schadsoftware“ aus dem App-Store entfernt.
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Sollte man Temu nicht nutzen?
"Es hängt immer davon ab, mit welcher Erwartungshaltung man bei diesen Apps einkauft", so Gladt. Qualitativ hochwertige Produkte könne man sich nicht erwarten - von nachhaltigen ganz zu schweigen. Beim Installieren der App solle man laut Gladt darauf achten, nicht alle Zugriffe - etwa auf Fotos oder Kontakte - zu gewähren.
Das ÖIAT rät aus Sicherheitsgründen insbesondere von elektronischen Geräten ab, "da die für eine sichere Nutzung notwendigen Überprüfungen der Produkte nicht gewährleistet ist“. Bei Kleidung und Produkten, die mit Nahrungsmitteln in Kontakt kommen, könne "eine hohe Schadstoffbelastung nicht ausgeschlossen werden“. Laut Watchlist Internet bleiben bei Temu Qualität, konsumentenschutzrechtliche Vorgaben und Zufriedenheit der Kundschaft auf der Strecke – "von ethischen Grundsätzen oder Umweltschutzgedanken ganz zu schweigen“.
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