Stellen Sie sich hinten an!

Stellen Sie sich hinten an!
Menschenmassen ziehen uns an, es fasziniert, all das zu sehen, was auch andere begeistert – belegt die Soziologie.

Den Venezianern reicht es jetzt. Die 55.000 verbliebenen Innenstadt-Bewohner werden an Spitzentagen von 130.000 Besuchern überrannt. Das ist, als fiele ganz Amsterdam in den neun Bezirken innerhalb des Wiener Gürtels ein. Jährlich kommen mehr als 22 Millionen Touristen in die Lagunenstadt, das drängt die Einheimischen zurück: Vor rund 60 Jahren lebten noch dreimal so viele Menschen im Stadtkern. Eine Eintrittsgebühr soll den „Overtourism“ nun abmildern, und damit nicht nur die Einwohner, sondern auch die Besucher beruhigen. Denn wer sich auf der Rialto-Brücke Rucksack an Rucksack drängt, hat weder Zeit noch Sinn für Venedigs Zauber.

Zerstören wir damit, was wir lieben und bemerken es gar nicht? Die schönen Paläste und die historischen Bauten gibt es ja immer noch, doch leben will darin niemand mehr. Venedig ist kein Einzelfall, Massentourismus höhlt weltweit immer mehr Städte aus.

Herdenphänomen

Doch es steckt in uns, dem Rudel zu folgen. Der britische Soziologe John Urry (1946 bis 2016) beschäftigte sich intensiv mit den Motiven und war davon überzeugt, dass uns Instinkte zueinander ziehen. Andere Menschen würden einem Ort eine Atmosphäre verleihen, es sei für uns ein Beweis dafür, wie sehr es sich lohnen würde, diesen Platz ebenfalls zu besuchen. Das beginnt im Kleinen, bei der Schlange vor dem Würstelstand, und reicht bis zum Großen – beim stundenlangen Anstellen in der Wartereihe vor dem Vatikan.

Hinzu kommt: 95 Prozent aller Menschen sind Herdentiere, das haben Forscher der Universität im britischen Leeds herausgefunden. Uns fasziniert, was andere auch begeistert. Und am meisten lassen wir uns von Menschen beeinflussen, die uns ähnlich sind. Soll in diesem Fall heißen: Touristen glauben anderen Touristen. Wir sind längst nicht so individuell, wie wir es vielleicht gerne wären. Was so viele machen, kann doch nur gut sein. Oder?

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Der leere Strand von Jesolo

Dahinter steckt ein weiterer tiefmenschlicher Zug: das unbewusste Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Verantwortlich dafür ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil des Gehirns, der Hirnstamm. Neben Reflexen und automatischen Vorgängen wie Atmung ist dort der Wunsch nach Zuordnung verankert, meint Susan M. Weinschenk, Verhaltenspsychologin und ehemalige Professorin der State University in New York. Sie beschäftigt sich auch mit Hirnforschung. Diese tiefer liegenden Gehirnregionen würden uns stärker beeinflussen, als die Großhirnrinde, die logisches und bewusstes Denken ermöglicht. Wir meinen also, wir wollen etwas erleben – dabei suchen wir Bestätigung. Verfolgen wir diese These weiter, so lässt sich das nicht nur an den überfüllten Touristen-Hotspots erkennen, sondern auch auf sozialen Plattformen. Seht her, hier bin ich! Hier muss jeder mal gewesen sein! Das Teilen der Erlebnisse in Echtzeit bringt uns Likes, auch hier suchen somit viele vielleicht unbewusst: das Spüren der Community, und somit – der Zugehörigkeit.

Neue Limits und Regeln

Indes drängen sich weiterhin Menschenmassen vor dem Eiffelturm in Paris oder durch die engen Gassen Dubrovniks. In dem kroatischen Küstenort will man nun gegensteuern. Als Maßnahme wurden unter anderem die Zahl der Taxis und anlegenden Kreuzfahrtschiffe reduziert. In New York (65 Mio. Touristen pro Jahr) sollen Besucherströme aus Manhattan in weniger frequentierte Regionen wie Queens oder Brooklyn umgeleitet werden. In Barcelona (27 Mio.) wurden Hotelprojekte zurückgestuft und die Kontrollen des Lärmschutzes gesteigert. Und auf Island (zwei Mio.) soll Werbung Touristen auch im Winter anlocken.

 

In Österreich wird besonders in Hallstatt über Limits für ankommende Reisebusse diskutiert. Auch Amsterdam (18 Mio.) will kein Themenpark sein, Genehmigungen für neue Hotels werden zurückhaltender als bisher behandelt und geführte Touren limitiert.

Dabei ist die Welt so viel größer, ohne Tunnelblick. Suchen wir nach dem Schönen, dem Außergewöhnlichem, dem noch Unentdeckten als reihenweise überfüllte Sehenswürdigkeiten abzuklappern. Hören wir auf, einander nachzulaufen. Oder einander auf die Füße zu steigen. „Einmal im Jahr solltest du einen Ort besuchen, an dem du noch nie warst“, wird Dalai Lama gerne zitiert. Damit hat er völlig recht. Am besten an einen Ort, an dem viele noch nie waren.

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