Am 3. September erhielt ein ausgewählter Personenkreis eine Einladung. Georg Weingartner, der österreichische Wirtschaftsdelegierte in Kiew, lud zur „Wirtschaftsmission“ nach Lemberg.
Man sollte sich ein Bild von der Region machen, die seit Kriegsausbruch zum Zentrum der ukrainischen Wirtschaft wurde. Sicherheitstechnisch hätte die Region, laut Mail, weitab der Front problemlos bereist werden können.
Bis ein Luftangriff in der Nacht auf den 4. September (der KURIER berichtete) die Stadt erschütterte und Menschenleben forderte. Das Forum wurde abgesagt. Die Wirtschaftsmission bleibt.
KURIER:Welche Botschaft hätten Sie mit dem Forum aussenden wollen?
Georg Weingartner: Bereitet euch auf den Neustart vor, auf die Zeit nach der Stabilisierung der Sicherheitslage. Wir wissen, dass es aktuell keine Planungssicherheit gibt. Aber wir wollen dazu ermutigen, das zu tun, was unter diesen Umständen möglich ist: Kontakte knüpfen, Fuß fassen und alles vorbereiten, um aktiv zu werden, wenn der Zeitpunkt kommt.
Firmen sollen großes Interesse daran haben, Geschäfte in der Ukraine zu beginnen. Sie sprachen sogar von einer Goldgräberstimmung. Ist das nicht übertrieben?
Bis zu einem gewissen Grad ist es schon so, dass man sich positionieren sollte. Wartet man zu lange, kann es sein, dass man unter ferner liefen mitläuft. Die Gefahr besteht bei der Ukraine, weil sie das Wiederaufbau-Projekt Europas im 21. Jahrhundert sein wird. Man spricht jetzt schon von einem Investitionsbedarf von 500 Milliarden Dollar, steigend mit jedem Monat. Damit wird sie alles in den Schatten stellen, was sich irgendwo in der Nähe von Europa in den nächsten Jahrzehnten abspielen wird.
Zentrum für den Wirtschaftsaufschwung soll Lemberg sein. Warum dort?
Lemberg und die Westukraine sind tendenziell sicherer als der Ostraum. Im ersten Jahr des Krieges gab es von etlichen europäischen Großkonzernen Investitionstätigkeiten, um Produktionsstandorte vom Osten in den Westen zu verlegen. Man kann durchaus sagen, dass diese Region aktuell das Power-Haus der ukrainischen Wirtschaft ist.
Aktuell sind 1.000 österreichische Unternehmen in der Ukraine aktiv. 200 sind vor Ort. Aber wo genau?
Die meisten befinden sich in der Zentralukraine, im Raum Kiew, und im Westen.
Um welche Firmen handelt es sich?
Österreich ist vor Kriegsausbruch der sechstgrößte ausländische Investor gewesen. Wir haben traditionell einige Bereiche, in denen wir extrem stark waren. Im Versicherungs- und Bankensektor, im Bereich Sportartikel, Elektronik und Haushaltsartikel. Oder in der Automobil- und Maschinenbauindustrie. Das sind große Branchen, in denen wir uns bewegen. Und dann noch das ganze Spektrum an Unternehmen, die in die Ukraine hineinliefern.
Wie intensiv stehen Sie im Austausch mit den Firmen?
Wir sind mit den Unternehmen, die vor Ort sind, laufend in Kontakt. Sie haben mit einer Reihe an Herausforderungen zu kämpfen. Eine davon ist, dass Mitarbeiter natürlich zum Militärdienst eingezogen werden und dadurch Schlüsselkräfte fehlen. Der Fachkräftemangel ist noch erschwerter, als er ohnehin schon ist. Auch durch die Fluchtbewegungen von qualifizierten Ukrainerinnen und Ukrainern.
Und wie steht es um die Stromversorgung?
Der Strom wird immer wieder stundenweise abgeschaltet. Das stellt produzierende Betriebe vor Probleme. Aber es gibt auch indirekte Auswirkungen der Kriegshandlungen auf die Firmen. Von der psychischen Belastung der Mitarbeiter bis hin zu Ausfällen von Aufträgen.
Eine Handvoll österreichischer Firmen hat mit Kriegsausbruch die Ukraine verlassen. Gibt es auch welche, die den Markt neu betreten haben?
Es gab schon einige Firmen, die neu in den Markt hineingegangen sind und sich versuchen, zu positionieren. Aber unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es schwierig, wirtschaftliche Erfolge zu machen. Diese Unternehmen denken sehr langfristig. Bauen sich jetzt ein Fundament auf, um dann losstarten zu können.
Wie ist es aktuell um die Wirtschaft in der Ukraine bestellt? Bei Kriegsausbruch verzeichnete man einen Einbruch von 30 Prozent.
Es ist tatsächlich so, dass die ukrainische Wirtschaft einen massiven Einbruch durch den Kriegsausbruch erlitten hat. Und sich dann aber sehr schnell umstrukturiert hat. Die Wirtschaft war ursprünglich stark konzentriert auf den Export von landwirtschaftlichen Produkten und Rohstoffen. Die Bereiche, die jetzt zum Wachstum beitragen, sind relativ resilient auf Kriegshandlungen. Etwa IT oder Leichtindustrie. Sie können überall arbeiten und sind dementsprechend flexibel und dynamisch und tragen zu diesem Wirtschaftswachstum massiv bei.
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