Es ist drei Tage vor Schulschluss. Florian ist 16, hat Pflegestufe fünf, mehrere chronische Krankheiten, darunter Inkontinenz, Entwicklungsverzögerung, Autismus und Epilepsie. Die zehnte Schulstufe schließt er gerade ab, seine Mutter, Bianca Stary, arbeitet 15 Stunden in der Pflege.
Er will weiter in die Schule gehen, doch dann kommt die Absage. Der Antrag auf das elfte und zwölfte Schuljahr wurde abgelehnt. Es ist bekannt, dass diese Schulstufen für Kinder mit Behinderungen selten bewilligt werden. Also hat Bianca Stary vorgesorgt. Florian kommt in eine Tagesstruktur – eine Betreuungseinrichtung für Menschen, die nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden können.
Doch plötzlich muss er weg von dort. Er hat nicht „reingepasst“. Eine andere Option gibt es aber gerade nicht. Florian ist zu Hause, kann sich nicht selbst versorgen, ist auf seine Mutter angewiesen, die alleinerziehend ist.
Bianca Stary muss kündigen. Von einem Tag auf den anderen. Ihr Arbeitgeber ist nicht glücklich darüber. Man will sie behalten, aber es geht nicht. Die Einigung: Bianca Stary kann den Resturlaub verbrauchen und wird im Oktober freigestellt. Seit Dezember ist sie arbeitslos.
Kein Einzelfall
Eine Konsequenz, die viele Mütter ziehen. „Unsere betroffenen Eltern, und vor allem Mütter, rutschen oft in die Mindestsicherungsfalle“, sagt Irene Promussas.
Sie ist Obfrau von Lobby4Kids, einem Netzwerk, das die Öffentlichkeit für die Bedürfnisse von Familien mit Kindern chronischer Erkrankungen sensibilisiert und Eltern unterstützt, sich im Dickicht der Behördenwege zu orientieren. Auch dabei, einen Weg zu finden, zu arbeiten, wenn die Betreuungsangebote für das eigene Kind rar sind.
Der Gipfel der Unvereinbarkeit
Wie schwierig die Vereinbarkeit von Beruf und Familie selbst für Eltern nicht behinderter Kinder ist, wurde kürzlich am Kinderbetreuungsgipfel prominent in der Wiener Hofburg präsentiert.
Der Gipfel der Unvereinbarkeit liegt jedoch hier: Bei Familien mit schwerstbehinderten Kindern, ganz gleich, ob es sich hier um körperliche Beeinträchtigungen oder Lernschwierigkeiten handelt.
„Wenn ich ein Kind habe, das nicht in jede Schule gehen kann, mehr Aufmerksamkeit braucht, ist es für viele Eltern und meistens Mütter unmöglich einen Vollzeit-Job auszuüben“, erklärt Christina Meierschitz vom Österreichischen Behindertenrat.
So auch bei Claudia Stark. Ihr Sohn Paul ist mittlerweile 26 Jahre alt – die intensive Betreuung endet jedoch nicht wie bei Kindern ohne Behinderung im Teenager-Alter. Paul hat Pflegestufe sechs, ist mobil, kann nicht sprechen. Dass Claudia Stark als Alleinerzieherin 30 Stunden in der Woche arbeitet, verdankt sie ihrem Job.
Die Innsbruckerin ist mobile Krankenschwester und damit flexibel. Ihren geregelten Job im Krankenhaus musste sie aufgeben. Bis Paul acht war, war sie arbeitslos, um ihn betreuen zu können.
Dann der Glücksfall: Nach Pauls Pflichtschulzeit startet in Tirol ein integratives Arbeitsmodell als Pilotprojekt. Seitdem arbeitet er halbtags. Und seine Mutter auch. Lieber wären ihr 40 Stunden, denn in 15 Jahren geht sie in Pension, die sonst zu mager ist.
Aber „das ist nicht zu managen“, sagt sie. Nicht nur die Pflege ihres Kindes ist zeitintensiv, sondern die Koordination ihrer sechs Assistenten, die sie für Paul braucht. Auch die unzähligen Behördenwege, Therapien und Gutachten für das Pflegegeld, die ständig anfallen. „Das ist mein ehrenamtlicher Zweitjob.“
Zu wenig Zahlen
Wie viele Familien österreichweit aktuell Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf pflegen, ist nicht klar. Zahlen sind rar, denn die Länder, die zuständig sind, sind mit Zahlen sehr zurückhaltend, sagt Christina Meierschitz: „Das haben wir schon immer kritisiert. Dadurch fehlen Argumente, wo etwas gebraucht wird und warum.“
29.851 Schüler hatten in Österreich 2021/22 einen sonderpädagogischen Förderbedarf.
Rund ein Viertel davon benötigt eine komplexe Betreuung.
Weitere repräsentative Zahlen liegen dem Sozialministerium aufgrund der Länderzuständigkeit nicht vor. Im Rahmen des Nationalen Aktionsplans Behinderung sind in Kooperation mit der Statistik Austria jetzt Erhebungen geplant, um die Datensituation bis spätestens 2030 erheblich zu verbessern. Die ersten Erhebungen starten noch in diesem Quartal, heißt es.
Was es jedenfalls braucht – und da sind sich alle Befragten einig – ist der barrierefreie Zugang zu Information. Sich im föderalistischen Geflecht auszukennen, welches das Leben von nicht arbeitsfähigen Menschen bestimmt, sei strapazierend.
„Das ist ein sehr verwobenes, verstricktes System von Gesetzen, das selbst für Fachleute eine Herausforderung ist“, berichtet Meierschitz. „Stattdessen braucht es Organisationen wie meine“, sagt Promussas von Lobby4Kids, „die wie eine Selbsthilfegruppe Informationen bündeln.“ Auch der Tenor der Familien lautet: „Es ist alles ein Kampf".
„Man ist überall Bittsteller, es gibt keine Automatismen“, erzählt Michael Ehm. Allein die Einstufung seiner Tochter für die richtige Pflegestufe endet, wie bei vielen, vor dem Sozialgericht. Daneben dem Beruf nachkommen? Schwer, aber heute funktioniert es gut.
Seine Tochter Theresa ist 16, hat Pflegestufe fünf und eine 100-prozentige Behinderung. Sie liebt Eiskunstlauf, aus den Augen lassen, darf man sie keine Sekunde. „Die Betreuung läuft unter vollem Einsatz“, sagt Ehm.
Er und seine Frau sind Angestellte in großen Unternehmen. Er Vollzeit, sie Teilzeit. Dennoch musste Ehm seinen Beruf nach Theresas Geburt wechseln. Der Job im Verkauf war zu starr. „Die Flexibilität ist aber eine Grundvoraussetzung“, sagt er.
Ehm und dessen Frau teilen sich jetzt die Homeoffice-Tage auf. „Unsere Situation ist privilegiert“, betont er. Ein Privileg, das auf dem guten Willen der Arbeitgeber beruht. Den wird er brauchen, wenn Theresas Pflichtschulzeit nach diesem Schuljahr endet und sie womöglich zu Hause betreut werden muss.
Mangelware: Kindergartenplätze
Hart umkämpft sind Betreuungsplätze auch schon vor der Pflichtschulzeit, im Kindergarten. Dort gibt es zwar wie für alle Kinder ein verpflichtendes Kindergartenjahr, allerdings können Eltern behinderter Kinder beantragen, von diesem befreit zu werden. Etwas, das ihnen gerne nahe gelegt wird, wie die Expertinnen erzählen.
„In der Praxis bleibt das Kind oft zu Hause“, sagt Irene Promussas. Von Müttern habe sie oft gehört, dass „ihnen bei Übergangs- oder Eingewöhnungsgesprächen ein schlechtes Gewissen gemacht wurde, das Kind in den Kindergarten zu geben. Nach dem Motto: Gönnen Sie Ihrem Kind die Zeit.“
Das ist Manuela Koschier nicht passiert. Trotzdem bekommt ihre Tochter Emily, die heute 15 ist, erst ein Jahr nach ihrem Zwillingsbruder, der keine Behinderung hat, einen Platz im Kindergarten. Emily hat Pflegestufe sieben und damit die höchste. Koschiers Ehemann ist im Tag-Nacht-Dienst voll im Einsatz.
Auch sie selbst wollte nach der Karenz wieder als Bankangestellte arbeiten. Und das Vollzeit. Also finanzierte sie eine Tagesmutter bis Emily im Kindergarten aufgenommen war.
Den größten Kampf trug Koschier in der Pflichtschulzeit aus, als Emily sechs Jahre alt war. Aufgrund ihres Unterstützungsbedarfs kam Emily in eine basale Förderklasse. Eine Randgruppe in der Randgruppe, wie Koschier erklärt.
Angebote für basale Kinder sind dünn. Die Nachmittagsbetreuung endet um 15.50 Uhr, die des Bruders um 16.30 Uhr. Damit Manuela Koschier ihre Arbeitszeit nicht reduzieren muss, kämpft sie um schulische Betreuung für die fehlenden 40 Minuten.
Und muss dafür, unterstützt von der Schuldirektorin, bis zum Bürgermeister. Es gelingt ihr. Koschier arbeitet sieben Jahre Vollzeit. Bis sie gesundheitlich ausgelaugt ist und ein Jahr ausfällt. Seit knapp fünf Jahren ist sie zurück in der Arbeitswelt.
Man tut dort alles, um sie zu unterstützen. Ist sie seit 20 Jahren eine verlässliche Mitarbeiterin. Ein wichtiger Unterstützer ist auch die Organisation Kinderfreunde. Die kümmert sich in der Ferienzeit, sagt sie. Etwas, das für basale Kinder eine Seltenheit ist. „Wenn die Kinderfreunde einmal aufhören, stehe ich wirklich da.“
Neue Initiativen und Reformen
Große Hoffnung setzen die Befragten in mehrere Initiativen, die jetzt angestoßen wurden. Etwa in die Pflegereform, die Vereinfachung für die Beantragung der erhöhten Familienbeihilfe und in ein Pilotprojekt des Sozialministeriums zur persönlichen Assistenz.
100 Millionen Euro werden investiert, damit Menschen mit Behinderungen auch außerhalb der Arbeitswelt persönlich betreut werden. Weiters: Die Installation von „School Nurses“, die an Regelschulen die medizinische Versorgung für chronisch kranke Kinder sicherstellen.
Zuletzt bleibt der klare Wunsch nach einem Rechtsanspruch auf das elfte und zwölfte Schuljahr. Im Idealfall sollte Schule bis zum 25. Lebensjahr möglich sein, so Promussas: „Das wäre für die Gesellschaft ein wirklicher Gewinn.“
Arbeiterkammer-Juristin Jasmin Haindl zu den Rechten berufstätiger Eltern von behinderten Kindern
Das Behinderteneinstellungsgesetz regelt u. a., dass auch Angehörige von Menschen mit Behinderungen beruflich nicht diskriminiert werden dürfen, erklärt AK-Juristin Jasmin Haindl. Bei anlassbezogenen Verhinderungen, die man im Vorhinein nicht planen kann, greift die Dienstverhinderung. Hier ist man nicht kündigungsgeschützt, sondern kann eine etwaige Motiv-Kündigung anfechten. Dafür muss man selbst vor Gericht ziehen.
Handelt es sich um eine langfristige Betreuungspflicht, gibt es keinen Anspruch, die Arbeitszeit dauerhaft zu reduzieren. Eine Elternteilzeit ist maximal bis zum Ablauf des siebenten Lebensjahres oder einem allfälligen späteren Schuleintritt möglich. Auch die Pflegeteilzeit ist zeitlich limitiert (Anspruch max. vier Wochen, bei Vereinbarung mit dem Arbeitgeber auf max. sechs Monate).
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