"Lernen ist bei uns negativ besetzt"

"Lernen ist bei uns negativ besetzt"
Bildungspsychologin Christiane Spiel über die Verdummung der Wissensgesellschaft - und wo Reform nötig ist.

Diese Woche erreichten zwei Meldungen die Redaktionen: Schüler mit Fünfer im Zeugnis dürfen künftig aufsteigen und holen nur das betroffene Fach nach. Und: Laut neu veröffentlichter PISA-Daten versteht jeder vierte 16-jährige Schüler nicht, was er am Computer liest. Damit rangiert Österreich international auf dem vorletzten Platz. Christiane Spiel, Leiterin des Instituts für Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation an der Uni Wien sprach mit dem KURIER über die Verdummung der Wissensgesellschaft, Sitzenbleiber und die lernhemmende Kultur in Österreich.

KURIER: Mit der Oberstufenreform wird das Sitzenbleiben abgeschafft. Ist das sinnvoll?
Christiane Spiel: Ja, sehr. Das Sitzenbleiben bringt kaum etwas, ist für den Staat sehr teuer und die Schüler verlieren ihre sozialen Kontakte. Auch zeigen Studien, dass Schüler mehr dazulernen, wenn sie aufsteigen dürfen.

Ist die Bildungsreform also endlich im Gange?
Für eine Bildungsreform gibt es keine schnellen Lösungen. Es braucht ein klares Gesamtkonzept und einen Strategieplan.

Drei Viertel der Wiener Firmen klagen über Lehrlinge, die nicht kopfrechnen können, Maturanten haben keine Ahnung, wie der Bundeskanzler heißt - verdummt unsere sogenannte Wissensgesellschaft?
Die PISA-Studie zeigt zwei Probleme auf: Zu viele Schüler können nicht sinnerfassend lesen, unter ihnen gibt es später die größte Arbeitslosenrate. Gleichzeitig ist die Gruppe der Spitzenschüler in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern relativ klein. Das heißt: Viele Positionen in der Wirtschaft können später nicht besetzt werden. Aber es geht ja nicht nur um die Berufschancen des Individuums: Kaum jemand bedenkt, dass man die vielen jungen Arbeitslosen mit schlechten Qualifikationen auch erhalten muss.

Bleibt es an den Betrieben hängen, diese Basisqualifizierung nachzulehren?
Das duale System war immer ein Erfolgsmodell. Mittlerweile müsste man das Berufsbildungssystem an die globalisierte Entwicklung anpassen. Man müsste viel mehr darüber wissen, welche Kompetenzen ein Meister braucht, um seine Lehrlinge zu befähigen. Die Schweizer, die auch das duale System haben, investieren viel Geld in Berufsbildungsforschung, um die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen. Das wäre auch in Österreich wichtig.

Sie sagen, Österreich hat eine leistungsfeindliche Kultur. Gleichzeitig berichten Eltern vom steigenden Leistungsdruck an den Schulen.
Die Schule hat drei Hauptaufgaben: Qualifikation, Sozialisation und die Erteilung von Berechtigung für weitere Ausbildungen. In den vergangenen Jahren dreht sich aber alles um die letztere Aufgabe.

Vonseiten der Politik?
Auch vonseiten der Eltern. Anstatt ihre Kinder zu fragen, was sie Neues gelernt haben, fragen sie vor allem nach den Noten. Das fängt bei der Volksschule an, wenn das Zeugnis über Gymnasium oder Hauptschule entscheidet. So wird das Lernen negativ besetzt. Eine deutsche Studie ein Jahr nach Pisa hat ergeben: Trotz positiver Noten haben 50 Prozent nichts dazugelernt, da Lernen nur der Noten wegen erfolgt. Dabei sollte im Vordergrund stehen: "Ich kann es".

Wie ändert man diese Einstellung?
Durch die Lehrer-Ausbildung: Sie müssen wissen, wie sie Schüler zum Lernen motivieren - indem sie inhaltlich an den Interessen der Schüler und ihr Vorwissen anknüpfen.

Andere Länder sind in dieser Hinsicht weiter.
In Finnland müssen Lehrer und Kindergärtnerinnen eine forschungsbasierte Master-Ausbildung absolvieren - nur zehn Prozent der Bewerber werden aufgenommen. Der Beruf hat damit auch ein hohes Ansehen.

Sie sind für Unterricht, der vom Wissen zum Handeln übergeht. Wie meinen Sie das?
Das Gesamtwissen hat so stark zugenommen, dass man den Schülern zwar solides Basiswissen vermitteln muss, jedoch differenziertes Wissen in den einzelnen Fächern nur exemplarisch vermitteln kann. Die Schule hat immer stärker die Aufgabe den Schülern zu vermitteln, wie sie richtig lernen und selbst Wissen erwerben.

Sie waren in den 1970ern Gymnasiallehrerin. Würden Sie`s heute sein wollen?
Das Unterrichten würde mir vermutlich auch heute gefallen. Allerdings liebe ich meine derzeitige Tätigkeit.

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