Anthropologe: „Die Suche nach Sinn wird bleiben“

David Graeber (59): Sinnlose Jobs en masse statt sinnfüllende Arbeit in Maßen
Arbeit mit Sinn – das wünschen sich Junge für ihre berufliche Zukunft. Leider spielt der Arbeitsmarkt oft nach anderen Regeln.

Es war einmal ein junger Mann, der wollte Dichter werden. Weil er auch singen konnte, wurde er Frontman einer Band. Die Songs kamen an, wurden im Radio gespielt, erheiterten Menschen, die Arbeit daran machte Spaß und Sinn.

Aber dann blieb das Geld aus und der junge Mann tat, was – wie er meinte – Orientierungslose eben so tun: Er studierte Jus und wurde Firmenanwalt in einer großen Kanzlei. Und hadert nun damit, dass er „viel Geld für völlig sinnlose Arbeit“ bekommt.Es waren Geschichten die wie diese, die den soeben verstorbenen, gerne etwas schräg denkenden Anthropologen David Graeber (58) darüber grübeln ließen, warum Menschen ihre Arbeit so oft als sinnentleert empfinden. Der Grund für die Unzufriedenheit, so erkannte Graeber, liegt daran, dass viele Menschen anscheinend echte „Bullshit-Jobs“ haben.

Wer er war: David Graeber (59) lehrte Anthropologie an der London School of Economics. Bekannt war er für seine anarchistischen Positionen. Anarchismus  lehnt jede Art von Hierarchie als Form der Unterdrückung von Freiheit ab. Graeber starb am 2. September 2020 in Venedig.

Was er wollte: Veränderung. Die Hälfte aller Jobs in der westlichen Wirtschaft, so Graeber,  sind „Bullshit-Jobs“:  Sinnlose, nutzlose Beschäftigungen, die weder den Mitarbeitenden noch den Unternehmen etwas bringen. Das System würde Menschen zu sinnloser Beschäftigung en masse statt zu sinnfüllender Arbeit in Maßen verurteilen.

Wofür er kämpfte: Sinn, das Klima und  die Occupy-Bewegung. Und dass man Wahrheiten, die man sich zu Coronazeiten  eingesteht – etwa welche Berufe wirklich systemrelevant sind – nicht sofort vergisst. 

Hälfte aller Jobs sinnlos

Also Berufe, die eigentlich niemand braucht, weil sie so völlig unnötig sind, dass selbst der Arbeitnehmer ihre Existenz nicht rechtfertigen kann. Aber weil es sehr viele davon gibt – laut Graeber sind die Hälfte aller Jobs sinnlos – und es gerade die sinnlosesten Berufe sind, die gut bezahlt werden, bewirbt man sich doch um sie.

Die Idee traf einen Nerv und machte Graeber bekannt. Und sie erhält gerade zu Corona-Zeiten – Stichwort systemrelevante Beruf – neues Futter. Denn die Krise zeigte deutlich auf: Wie bedeutsam ein Beruf ist, hängt nur wenig von Lohn und Ansehen ab.

„Das ist natürlich ein plakatives und auch provokatives Postulat, das in erster Linie zum Nachdenken anregen soll. Ich sehe es nicht ganz so dramatisch“, relativiert Ingrid Rattinger, Managing Partnerin Talent bei EY Österreich, Graebers Thesen.

Sinnvoll und wichtig, so meint sie, sind nicht nur die im engeren Sinn systemrelevanten Jobs wie Arbeit in Krankenhäusern oder Supermärkten, sondern auch Berufe im Bereich Kultur und Unterhaltung.

Starke Sinn-Suche

Dass vor allem junge Menschen in ihrem beruflichen Tun nach Sinn suchen, erlebt aber auch sie: „Idealerweise sucht sich ein junger Mensch einen Beruf aus, der mit fachlichen Tätigkeiten verbunden ist, die ihm liegen und Freude bereiten.

Dann ist man motiviert, Leistung zu bringen, und hat Erfolgserlebnisse.“ Fehlt dies, fühlt man sich unzufrieden, unausgefüllt und begibt sich vielleicht auf Jobsuche.

Wenn die Zweifel nagen

Doch ist ein Jobwechsel der richtige Weg, wenn der Zweifel an der Relevanz des eigenen Tuns zu nagen beginnen? „Das kommt stark auf die individuellen Umstände und Situationen an“, rät die Expertin: „Es wird vermutlich immer mal Phasen geben, wo man eine Zeit lang die Sinnfrage hintanstellen muss.

Manchmal muss man also durchhalten.“Aber, so meint Expertin, es wird aber genauso Situationen geben, in denen man sich beruflich neu ausrichten sollte.

Was bringt die Zukunft?

Allerdings ist der Arbeitsmarkt gerade in Krisenzeiten für junge Menschen kein Wunschkonzert. Doch gerade jetzt formt sich auch eine neue Arbeitswelt. Im Rahmen der digitalen New Work Experience Formatreihe NWXnow diskutierten soeben Experten über den Corona-bedingten radikalen Wandel des Arbeitsalltags.

Die wichtigste Aussage ihres Thesenpapiers lautet: Die Bullshit Jobs sind am Ende. Denn die Bedeutungsfrage stellt sich nicht nur Jungen, sondern auch Führungskräften – Hierarchien und finanzielle Anreize reichen für Jobzufriedenheit heute nicht mehr aus.

Psychologe Stephan Grünewald fasst es zusammen: „Denn nach Corona wird die Suche nach Sinn im Job – die Suche nach einer Arbeit, die auch für die Gesellschaft einen Wert hat – bleiben.“

Kommentare