Abstand nehmen vom Anruf

"Hätte ich doch lieber klingeln lassen"
Länderübergreifend grassiert ein bizarres Phänomen: Die Angst vor dem Anruf – man lässt lieber läuten und kommuniziert schriftlich. Warum ist das so?

Ganz ehrlich: Wie oft gehen Sie nicht ans Handy, wenn es läutet? Sind gerade nicht erreichbar. Melden sich lieber später per eMail oder Whatsapp, wenn Sie besser Zeit haben – oder Lust. Oder auch mal gar nicht – bei einem anonymen Anrufer oder einer Nummer, die Sie nicht kennen.

Jemanden direkt zu erreichen verkommt immer mehr zur Seltenheit. Dass einen jemand sprechen will und das auch noch in der Sekunde gelingen soll – unabhängig von der Verfügbarkeit und Verfassung des Angerufenen – , das fühlt sich heute nahezu übergriffig an. Was für ein Affront!

Usus hingegen ist es vielerorts geworden, erstmal schriftlich anzuklopfen, bevor man es telefonisch tut. Ein bizarres Phänomen. Länderübergreifend, vom britischen Guardian über die Süddeutsche, zerbrechen sich Kolumnisten über diese grassierende Telefon-Phobie den Kopf und versuchen sich in Essays einer Erklärung dafür anzunähern. Und auch sie plädieren dafür: "Rufen Sie mich nicht an!"

Abstand vom Anruf

Privat, aber auch im Geschäftsleben nimmt man also Abstand vom Anruf. Warum auch nicht? Die Technologie erlaubt es uns, nicht stundenlang am Telefon und somit auch in Auseinandersetzungen und Diskussionen hängen zu müssen. Wir können unsere Botschaften in Ruhe und bequem schriftlich deponieren, Emojis steuern die passende Gefühlslage bei. Das ist in wenigen Sekunden erledigt, in einen Bildschirm, der nicht widersprechen kann, getippt und versendet.

So verschicken wir heute weltweit lieber 269 Milliarden eMails und 55 Milliarden WhatsApps am Tag, Tendenz steigend, als zu reden. Eine Menge 0- und 1-Daten, die da durch die Leitungen rasen. Die menschliche Stimme ist immer seltener dabei. Es ist ein Paradigmen-Wechsel, den auch die Zahlen bestätigen: Sprachtelefonie geht zurück.

Ein Grund für die Phobie könnte sein, dass wir uns im Geschäftsleben stets professionell geben wollen. Einen wichtigen Anruf annehmen, obwohl wir gerade in der Kantine Suppe schlürfen? Mit dem weinenden Kind in der U-Bahn fahren? Gerade übelst gelaunt sind? Lieber nicht.

Andererseits, so scheint es, haben sich die Gründe für einen Anruf geändert. So greift man heute – neben gewöhnlichem Kundenkontakt und internen Besprechungen – vor allem dann zum Hörer, wenn es um Heikles oder Vertrauliches geht. Wenn das Anliegen nicht schriftlich durch den Ether geistern und so für immer manifestiert werden soll. Die Stimme im Hörer kann dann die nötige Dringlichkeit oder aber auch Besänftigung zum Anliegen beischießen – und lässt nicht selten einen gewollten Freiraum für Interpretationen. Der Angerufene muss dann auf Zack sein und sich auf die ad hoc-Konfrontation einlassen. Wahrscheinlich lässt man’s deshalb lieber läuten.

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