Lost Places Trend: Der Zauber des Verfalls

Das Schwungrad einer ehemaligen Spinnerei in Österreich wurde beim Umbau erhalten
Dem Mysterium „Lost Places“ auf der Spur: Über Menschen, die mit Leidenschaft Orte besuchen, die längst verfallen sind.

Für die meisten ist ein Keller nur ein Keller. Ein Ort, um sein Fahrrad abzustellen, Weinflaschen zu lagern oder andere Habseligkeiten. Für Marcello La Speranza und Lukas Arnold sind Keller etwas Besonderes, Orte voller Geschichte. Vor allem dann, wenn es sich um die Kellergewölbe im Untergrund von Wien handelt. Der 56-jährige Historiker und der 22-jährige Hobbyfotograf bilden zusammen das „Forscherteam Wiener Unterwelten“. Gemeinsam dokumentieren sie verlassene Orte, um sie für die Nachwelt zu erhalten.

Lost Places Trend: Der Zauber des Verfalls

Historischer Keller unter der A. Moll Apotheke „Zum weißen Storch“, Tuchlauben 

Heute inspizieren sie die Keller unter der A. Moll Apotheke „Zum weißen Storch“ am Tuchlauben Nr. 9 im ersten Wiener Gemeindebezirk. „Wir sind hier im ältesten Teil Wiens. Genau hier befand sich vor 2000 Jahren das Legionslager Vindobona der Römer“, sagt La Speranza. In diesen Kellergewölben wurde im Jahr 1917 eine römische Speerspitze gefunden. Sonst erinnert hier, zwei Geschoße unter Straßenniveau, nichts mehr an die Römerzeit. Seit 1870 und damit seit dem Bestehen der Apotheke, wurde der Keller als Lager für Waren genutzt.

Lost Places Trend: Der Zauber des Verfalls

Marcello La Speranza mit Lukas Arnold

Man sieht jetzt noch alte Heinrich Drasche Ziegeln aus dem 19. Jahrhundert, Kisten aus der NS-Zeit, unzählige kleine und große Arzneifläschchen und zugemauerte Gänge, die in benachbarte Keller führten. Die Augen von La Speranza und Arnold leuchten, als hätten sie einen Schatz gefunden. „Wir sind jetzt gerade Teil der Vergangenheit. Faszinierend, oder?“, fragt La Speranza und spricht damit ein Phänomen an, das derzeit viele Hobbyfotografen begeistert: Den Zauber von verlassenen Orten, in der Szene besser bekannt unter dem Namen „Lost Places“.

Lost Places Trend: Der Zauber des Verfalls

Ein von Farn  besiedeltes Zimmer eines ehemaligen DDR Erholungsheims besiedeltes 

In den vergangenen Jahren ist ein regelrechter Hype um diese verlassenen Orte ausgebrochen. Zahlreiche Bücher sind dazu erschienen und im Internet sowie in den sozialen Medien findet man Communitys, die Bilder von alten Fabrikshallen, abbruchreifen Krankenhäusern, heruntergekommenen Hotels teilen. Der Fotograf Thomas Windisch ist Teil dieser Community. Er hat die Liebe zu den Lost Places zu seinem Beruf gemacht und fotografiert auf der ganzen Welt verlassene Orte.

Im Gegensatz zum Forscherteam Wiener Unterwelten geht es Windisch weniger um die Geschichte hinter einem Ort. Er möchte den Verfall, die Mystik und die Ästhetik bildlich einfangen. „Ich wollte nicht das tausendste Foto einer schönen Frau schießen. Ich wollte Orte und Dinge fotografieren, die im Alltag unsichtbar sind“, sagt Windisch. Das Faszinierende daran für den Grazer Fotografen? „Man recherchiert einen Ort, fährt hin und weiß nie, was einen erwartet. Es ist wie ein großes Überraschungsei. Ein spannendes Abenteuer, das man im richtigen Licht einfangen will.“ Einmal, erzählt Windisch, war er in Frankreich unterwegs und hat ein Haus fotografiert, dessen Dach zum Teil eingefallen war, die Fensterscheiben nicht mehr vorhanden. Plötzlich stand mitten im Wohnzimmer eine Familie, die genau so überrascht war wie er. Sie waren schlichtweg zu arm, ihr Haus instand zu halten, erzählten sie dem Überraschungsgast freundlich. Nicht immer aber geht es so wohlwollend zu. „Ich bin auch schon auf Kupferdiebe gestoßen, die mich aus Angst mit der Flex vom Grundstück vertrieben haben.“

Lost Places Trend: Der Zauber des Verfalls

Spektakulär: Der Blick ins früher einmal opulente Stiegenhaus einer alten italienischen Villa 

Rechtlich bewegt sich Windisch in einer Grauzone. „Ich knacke aber keine Schlösser und verschaffe mir nicht gewaltsam Zutritt. Und wenn ich den Besitzer ausfindig mache, frage ich um Erlaubnis.“ Außerdem gibt es innerhalb der Szene einen Kodex. Dieser besagt, dass man die Orte wieder so verlassen soll, wie man sie vorgefunden hat und nichts mitnehmen darf. „Leider gibt es immer wieder Leute, die den Ort verändern, Gegenstände herumschieben, nur um das perfekte Foto zu inszenieren“, sagt Windisch und ärgert sich über die Respektlosigkeit.

Lost Places Trend: Der Zauber des Verfalls

Fotograf Thomas Windisch hat die Liebe zu 
„Lost Places“ zu seinem Beruf gemacht  

Auch Lukas Arnold vom Forscherteam Wiener Unterwelten findet es „katastrophal“, wenn Besucher eines Lost Places Müll hinterlassen oder gar Wände mit Graffiti besprühen. „Es tut weh, zu sehen, wie Menschen mit der Geschichte eines Gebäudes umgehen.“

Österreich hat im Vergleich zu anderen Ländern wenige Lost Places, da die meisten Häuser und Plätze verbaut und wieder genutzt werden. „In anderen Ländern haben Besitzer aber nicht das Geld zu renovieren oder ganze Grundstücke geraten einfach in Vergessenheit“, sagt Windisch aus Erfahrung. Lukas Arnold ist wiederum aufgefallen, dass vor allem in den vergangenen drei Jahren sehr viele Lost Places in Österreich einem Neubau zum Opfer fielen: „Das ist natürlich verständlich und trotzdem schade, aber darum dokumentieren wir auch den Wandel dieser Orte, damit der Zauber erhalten bleibt.“

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