Bauernhof in der Stadt
Jackson ist ein hübsches Städtchen in den Bergen des US-Bundesstaats Wyoming. Bekannt ist es für seine Skipisten und die umliegenden Nationalparks. Doch seit Kurzem hat Jackson eine neue Attraktion, die weltweit Furore macht: eine "Vertical Farm".
Auf einem brachliegenden Grundstück mitten in der Stadt, gleich neben einem Parkhaus, hat die Architektin Nona Yehia zusammen mit einer Partnerin und der Stadt ein dreistöckiges Gewächshaus gegründet, das "Vertical Harvest". Auf drei Etagen wachsen Salate, Kräuter und Tomaten. "Wir produzieren das ganze Jahr über frisches Gemüse. Voriges Jahr waren es 4,5 Tonnen", sagt Nona Yehia, "wir beliefern Restaurants und Supermärkte in ganz Jackson."
Erstaunlich, denn in Jackson ist es acht Monate im Jahr bitterkalt und die Böden sind gefroren.
Was bis vor Kurzem noch als Spinnerei von ein paar Visionären abgetan wurde, ist drauf und dran, die althergebrachten Ideen der Stadtplanung zu revolutionieren. Die Befürworter von Vertical Farming wollen die Produktion von frischem Gemüse in die Städte, also zu den Konsumenten, zurückbringen. Dafür werden verlassene City-Grundstücke für Gewächshäuser genutzt. Die Pflanzen werden einfach auf mehrere Etagen übereinandergestapelt.
Anbau ohne Erde und mancherorts ohne Tageslicht – das macht die Technik mittlerweile möglich. Das Grün wächst in nährstoffreichen Substraten unter LED-Leuchten heran – mitten in Manhatten oder am Hamburger Hafen. "Meine Vision ist es, dass Gebäude und Städte künftig völlig autark sind, indem sie Energie und Lebensmittel selbst erzeugen", sagt Dickson Despommier. Der Mikrobiologie gilt seit dem Erscheinen seines Buches "The Vertical Farm" 2010 als Vater der Bewegung. "Jede Stadt auf der Erde sollte eine vertikale Farm haben."
Diese Woche war Despommier auf der internationalen Konferenz "Urban Future / Skyberries" zu Gast in Wien. Der 77-Jährige kann es selbst kaum fassen, wie rasch sich seine Ideen derzeit verbreiten: Vertical Farming ist heute der schnellst wachsende Sektor in der Landwirtschaft und am Sprung zum Milliarden-Business. Despommier: "In den vergangenen fünf Jahren sind mehrere Hundert Farmen entstanden. Jede ist im Expansions-Modus."
In den vergangenen fünf Jahren sind mehrere hundert vertikale Farmen enstanden. Jede ist im Expansionsmodus.
Auch Vertical Harvest aus Jackson baut in Pennsylvania gerade eine zweite Produktionsstätte, die viermal so groß ist, wie die bestehende. Weiteres prominentes Beispiel: Der Bruder von Tesla-Gründer Elon Musk, Kimbal Musk, gründete vor gut einem Jahr das Start-up Square Roots. In Schiffscontainern will er in New York City die landwirtschaftliche Produktion neu erfinden. "Wir befinden uns derzeit in einer Pionierphase", sagt der ehemalige EU-Agrarkommissar Franz Fischler.
Seit Jahrtausenden bauen Menschen Gemüse und Früchte auf Feldern an. Warum sollte der traditionelle Ackerbau ausgerechnet jetzt ein Ende haben? Die ersten Ideen zu Vertical Farming reichen bis 1909 zurück. Ein Pionier stammt übrigens aus Österreich: Der Anlagenbauer Othmar Ruthner erfand 1964 ein "Turmgewächshaus", das auf der Internationalen Gartenschau in Wien als Sensation gefeiert wurde. Sogar die "New York Times" schrieb darüber und ortete "den ersten Schritt zur fabriksmäßigen Herstellung von Pflanzen und Gemüse. Tatäschlich verkaufte Ruthner 50 Turmgewächshäuser auf der ganzen Welt wie in den Iran und Russland. In Libyen errichtete der Erfinder, der immerhin 60 Patente auf dem Gebiet Vertical Farming anmeldete, mit dem Anlagenbauer Andritz eine Grünfutterproduktionsanlage, die zehn Tonnen Grünfutter am Tag für die Ernährung von 250 Milchkühen produzierte. Die Anlagen allerdings wirtschaftlich nicht rentabel.
Vom Dachgarten zum High-Tech-Bunker
Experten summieren unter dem Begriff im Prinzip alle Gemüse-Anbaumethoden, die in die Höhe gehen (vertikal) und in der City stattfinden. Je nach Grad der Technologisierung ist die Bandbreite groß: Sie reichen vom einfachen Folientunnel und Dachgarten bis zu Farmen, die eher Hightech-Bunkern als Bauernhöfen gleichen. Manche Gewächshäuser sind geschlossene, dunkle Räume, wo Sensoren und Kameras statt Menschen die Pflänzchen überwachen. Nährstoffe, Wärme- und Lichtbedarf werden digital rückgemeldet. "Derartige Systeme sind sehr komplex. Es findet viel Forschungsarbeit dazu statt", sagt Daniel Podmirseg vom "Vertical Farming Institute" in Wien.
Warum Vertical Farming im Vormarsch ist, liegt an der beeindruckenden ökologischen Bilanz: Der Wasserbedarf ist um 90 Prozent niedriger als in der konventionellen Landwirtschaft. Dazu kommt, dass auch der Bodenverbrauch um ein Vielfaches geringer ist. Mit einem Indoor-Hektar kann so viel Gemüse geerntet werden wie mit zehn bis 100 Hektar traditioneller Bewirtschaftung – je nach Gemüseart. Angesichts wachsender Bevölkerung und sinkender Bodenressourcen ein enormer Vorteil.
Gemüse wächst quasi ums Eck und landet sehr frisch auf den Tellern der Konsumenten – auch das spricht für Vertical Farming. Diesen Pluspunkt erkannte "Farmerscut" in Hamburg. Das Start-up wurde von Mark Korzilius ins Leben gerufen. Der Unternehmer gründete auch die inzwischen weltweit erfolgreichen Restaurant-Kette Vapiano. Seit vergangenen September produziert "Farmerscut" in einer stillgelegten Lagerhalle am Hafen mit digitaler Überwachung. Die genaue Lage und die verwendeten Substrate hütet Farmerscut wie einen Schatz.
Rund 80 verschiedene Sorten an Salaten, Micro-Greens und Kräuter hat Farmerscut im Sortiment. Der Geschmack ist das Um und Auf – kräftig und frisch soll er sein. Der Salat wird lebend, also mit den Wurzeln in einer kleinen Box zu den Kunden geliefert. Zu den Abnehmern zählen ein Start-up-Hub und eine Reihe von Spitzenrestaurants, wie jenes des Star-Kochs Tim Mälzer. "Die Konsumenten erkennen, wie frisch unsere Salate sind und wie gut sie schmecken", sagt Isabel Molitor, Co-Gründerin von Farmerscut.
Vertical Farming benötigt zudem keinerlei Pestizide und Herbizide. Das Grün ist also komplett frei von Schadstoffen. Diese Eigenschaft ist vor allem in Japan ein Verkaufsschlager: Nach dem Unglück im Atomkraftwerk Fukushima 2011 explodierte die Zahl an vertikalen Farmen regelrecht. Rund 200 gibt es derzeit.
Die größte steht nahe Kioto und wird vom Agrar-Multi "Spread" betrieben. 21.000 Salatköpfe, und das täglich, werden an mehr als 2000 Geschäfte ausgeliefert. 2017 erwirtschaftete die Farm rund 6,6 Millionen Euro Umsatz. Derzeit expandiert Spread: 120 vertikale Farmen sollen in den kommenden Jahren auf der ganzen Welt errichtet werden. "Die japanischen Konsumenten mögen sichere, saubere und qualitativ hochwertige Produkte", sagt Chris Malcolm von Spread.
In heimischen Städten ist Vertical Farming erst am Anfang. Das erste Pilotprojekt startet demnächst in der ehemaligen Tabakfabrik in Linz. Die Portiersloge wird zu einem grünen Versuchslabor und Besprechungsraum umgestaltet. Obwohl Österreich rund um die Städte eine intakte Landwirtschaft hat – Stichwort Wiener Gärtner und Marchfeld –, liegt der Selbstversorgungsgrad mit Gemüse hierzulande bei knapp über 50 Prozent. Der Rest ist Importware. "Was die Selbstversorgung anbelangt, gibt es eine vollkommen verzerrte Wahrnehmung", so Daniel Podmirseg vom Vertical Farm Institute, "das Marchfeld ernährt gerade mal die Bewohner des sechsten Bezirks."
Für Sorten, die frisch auf den Markt kommen, macht Vertical Farming Sinn.
Welches Potenzial schlummert im Vertical Farming? Kann damit der Hunger in der Welt besiegt werden? Die neuen vertikalen Landwirte bauen derzeit vor allem Salate an, weil die Erträge pro Quadratmeter am höchsten sind. Wenn die Forschung stärkere und billigere LED-Leuchten, sowie neue, mit Tageslicht gekoppelte Fassaden-Technologien entwickelt, könnte sich das Sortiment schnell verbreitern. "Für Sorten, die frisch auf den Markt kommen, macht Vertical Farming Sinn. Es erhöht die Versorgungssicherheit der Städte", urteilt Landwirtschaftsexperte Franz Fischler. "Ein schöner Nebeneffekt bei Vertical Farming ist, dass Menschen wieder mehr Verständnis für die Lebensmittelerzeugung bekommen."
Doch skeptisch ist der ehemalige EU-Kommissar, was Agrargüter wie Weizen, Mais oder Futtermittel anbelangt. "Für Länder, die von Hunger betroffen sind, braucht es sicher andere Überlegungen als Vertical Farming", so Fischler.
KURIER: Frau Sassen, hatten Sie schon einmal die Gelegenheit, eine vertikale Farm zu besuchen?
Saskia Sassen: In den Niederlanden habe ich vertikale Farmen gesehen. Die Niederländer sind Meister bei Gewächshäusern. Erstaunlich ist, dass dieses kleine, überbevölkerte Land es schafft, der zweit größte Lebensmittelexporteur der Welt zu sein. Die vertikale Produktion ist sehr mechanisch, super fortschrittlich. Kein Mensch hat Zugang, Roboter erledigen die Arbeit. Man will jegliche Gefahr von Krankheit und Verschmutzung draußen halten.
Was halten Sie von dieser Art der Landwirtschaft?
Die technischen Möglichkeiten sind großartig, ich liebe das. Aber ich frage mich, wie stabil diese reine Umwelt ohne äußere Einflüsse in den Hightec-Farmen langfristig ist. Wenn ein Sturm kommt, und die vertical farm niederreißt, ist das eine Katastrophe. Das System ist fragil. Ich glaube, dass wir über kurz oder lang Einflüsse von außen wie Menschen, Tiere und Mikroorganismen zulassen müssen. Aus der Geschichte wissen wir, dass ein Mix von DNA notwendig ist. Die Perfektion ist nicht nachhaltig. Wir müssen also ein Format finden, wo diese reine Umgebung durch Erde, Menschen und Organismen ein wenig durcheinander gebracht wird.
Finden Sie es gut, dass die Landwirtschaft zurück in die Stadt kommt?
Wir müssen viele Dinge wieder lokaler gestalten, auch die Lebensmittelproduktion. Wir müssen weg davon, Essen tausende Kilometer mit dem Schiff zu transportieren. Aber in dieser Diskussion rund um die technischen Optionen dürfen wir nicht die Möglichkeit vergessen, dass wir unser Essen auch ganz einfach in der Erde unter freiem Himmel anbauen können. Wir sollten uns nicht lächerlich machen und praktische Intelligenz walten lassen. Ich würde mir wünschen, dass jede Nachbarschaft ein Stück Land hat, um Gemüse anzubauen. Und wenn es zu wenig Land gibt, soll es vertikal angebaut werden.
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