Es sind Bilder, die viele aus den Geschichtsbüchern ihrer Schulzeit kennen: Frauen räumen in den Jahren 1945 und 1946 im zerbombten Wien scheinbar selbstlos mit Schaufeln den Schutt von den Straßen und reinigen mit bloßen Händen die Ziegel. Als Heldinnen des Wiederaufbaus und damit des Neuanfangs einer Nation sind die „Trümmerfrauen“ fester Bestandteil historischer Darstellungen der ersten Monate nach Kriegsende. Der erst später entstandene Mythos hielt dem Realitätscheck nie stand, verfestigte sich aber in den Köpfen der Österreicherinnen und Österreicher. Doch wie war es wirklich?
Ganz anderes als die heldenhaft geschönten Bilder vermittelten, zeigt nun eine neue Studie eines Forscherteams der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) anhand bisher kaum ausgewerteter Quellen aus den Nachkriegsjahren. Demnach befreiten nicht Freiwillige Wien nach dem Krieg von Schutt und Ruinen, sondern vor allem Zwangsarbeiter – die meisten davon ehemalige NSDAP-Mitglieder – sowie die Alliierten, die mit schweren Geräten zu Werke gingen. Der KURIER sprach mit dem Historiker und Studienautor Martin Tschiggerl über Trümmerbeseitigung und spätere Mythenbildung.
KURIER: Gibt es genaue Zahlen bzw. Schätzungen, wie viele Trümmerfrauen es 1945/46 in Wien gab?
Michael Tschiggerl: Mit Sicherheit wissen wir, dass zur manuellen Arbeit vor allem zwangsverpflichtete Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten, Männer und Frauen, eingesetzt wurden. Es lassen sich rund 7.000 nachweisen. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Nachweislich wurden in den Jahren 1945 und 1946 mehrere Millionen Stunden an Trümmerarbeit durch ehemalige NSDAP-Mitglieder geleistet.
Also Zwangsarbeit und keineswegs Freiwilligendienst?
In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es nicht nur einen Mangel an potenziellen Arbeitskräften, sondern auch einen Mangel an Bereitschaft in der Bevölkerung, sich überhaupt an den Aufräumungsarbeiten in der zerstörten Stadt zu beteiligen. Eine per Verfassungsgesetz beschlossene Arbeitspflicht sollte Abhilfe schaffen. Betroffen davon waren in erster Linie ehemalige NSDAP-Mitglieder.
Freiwillige dürfte es so gut wie keine gegeben haben, dafür sprechen viele zeitgenössische Quellen. Der Großteil der händischen Trümmerräumung wurde durch zwangsverpflichtete ehemalige NSDAP-Mitglieder sowie deren Angehörigen erledigt. Dazu kamen bezahlte, professionelle Kräfte – eher Männer, aber auch Frauen – und die Alliierten, da diese über schweres Gerät verfügten. Es gab einzelne Aktionen freiwilliger oder zumindest halbfreiwilliger Arbeit, so mussten etwa Studierende für die Inskription bei der Universität räumen oder Jugendliche als Teil der Aktion „Jugend am Werk“. Der Großteil der Arbeit erfolgte aber nicht freiwillig.
Welche Arbeiten wurden vor allem von Frauen erledigt? Unter den zwangsverpflichteten Nazis kamen beide Geschlechter vor allem in der Trümmerräumung zum Einsatz. Bei Reinigungsarbeiten und Bedientätigkeiten wurden eher Frauen eingesetzt, zu Leichenbergungen Männer. Als die ehemaligen Nazis später für ihre Sühnearbeiten entschädigt wurden, erhielten Frauen für die gleichen Arbeiten weniger Lohn als Männer, obwohl sie ebenso schwer gearbeitet haben.
Wie war die öffentliche Wahrnehmung der Trümmerfrauen im Jahr 1945 im Vergleich zum Mythos, der ja erst später entstanden ist?
1945 war in der Regel bekannt, dass es sich bei den Trümmerarbeitern auf den Straßen Wiens um ehemalige Nationalsozialisten handelte. Die Zeitung berichteten breit über diese Sühnemaßnahmen, Zeitzeugen bestätigen auch, dass sie vom NS-Hintergrund der Trümmerfrauen wussten. Viele der ehemaligen NSDAP-Mitglieder, die Sühnearbeit verrichteten, berichteten später von Anfeindungen durch Passanten.
Gab es die Trümmerbeseitigung durch ehemalige NSDAP-Mitglieder nur in Wien oder auch in anderen österreichischen Städten?
Das Verfassungsgesetz zur Sühnearbeit bezog sich nur auf Wien, doch auch in anderen Bundesländern wurden Nazis zur Arbeit eingesetzt, aber nicht im selben Ausmaß.
Warum hat sich der Mythos der Trümmerfrauen erst in den 1990er- und 2000er-Jahren etabliert?
Davor gab es keinen Bedarf für die Trümmerfrauen als eigene Opfergruppe, da die gesamte österreichische Bevölkerung als Opfer des Nationalsozialismus gesehen wurde. Erst als die allgemeine Opferthese an Bedeutung verlor, wurde Platz für die Trümmerfrauen als neues Opfernarrativ. Tatsächliche Entbehrungen der Nachkriegszeit wurden eingewoben in eine mystifizierende Erzählung von Heldenmut und Opferbereitschaft, in der die NS-Zeit einmal mehr ausgeblendet werden konnte. Gleichzeitig kamen Impulse von der Frauen- und Geschlechtergeschichte, die sich für die Rolle von Frauen in der Nachkriegszeit interessierte. Auch die Debatten um die Schlechterstellung von Frauen im Pensionssystem befeuerte den Mythos.
Was hat Deutschland mit der Mythenbildung zu tun?
Die Trümmerfrauen stammen als Mythos aus der DDR. Dort wurden bereits in den 1950er-Jahren die ersten Denkmäler errichtet und die Aufbauhelferin als Heldin der Werktätigen inszeniert. Tatsächlich waren in Berlin und anderen ostdeutschen Städten Zehntausende bezahlte Bauarbeiterinnen in der Schutträumung tätig. In Westdeutschland lassen sich aber so gut wie keine Trümmerfrauen nachweisen. Dort begann aber trotzdem ab den 1980er-Jahren eine Mythenbildung, ebenfalls befeuert durch Rentendebatten und Frauengeschichte. Von dort aus kam der Mythos dann nach Österreich.
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