Tauwetterphase
Dass Österreich nach zehn Jahren Besatzung durch die Alliierten reif für die volle Unabhängigkeit war, hat zwei Ursachen. So herrschte nach dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin 1953 mitten im Kalten Krieg eine kurze Tauwetterphase, die Österreichs Politiker geschickt nutzten.
Möglich war das aber nur, weil der Staatsvertrag ein gemeinsames Projekt der damaligen Großparteien ÖVP und SPÖ war. Dabei hatten die beiden Parteien (bzw. deren Vorläufer) einander erst 1934 in einem Bürgerkrieg bekämpft. Es gibt nur wenige historische Beispiele für eine derartige Lernfähigkeit (selbst im heutigen Spanien ist aufgrund des Bürgerkriegs von 1936 bis 1939 eine Große Koalition noch immer unmöglich).
Nicht, dass ÖVP und SPÖ einen Kuschelkurs gefahren wären. Schon im Wahlkampf 1945 flogen die Fetzen. Aber am Ende siegte der Pragmatismus. Der Staatsvertrag zementierte diesen 1945 begonnenen Pragmatismus, der über die Jahrzehnte wirksam blieb (in Spurenelementen vielleicht sogar bis hin zur Bildung der aktuellen Regierung).
EU-Beitritt
Der Beitritt zur EU war ebenfalls ein gemeinsames Projekt. Auch das war nicht selbstverständlich. Heute kaum noch vorstellbar: Aber die SPÖ (sowie übrigens auch Teile der ÖVP) war lange Zeit EU-skeptisch eingestellt, während die FPÖ klar proeuropäisch war. Unter SPÖ-Kanzler Franz Vranitzky (bzw. FPÖ-Chef Jörg Haider) änderte sich das.
Dazu wird der 15. Mai 1955 mit der Neutralität assoziiert. Die ist zwar gar nicht im Staatsvertrag verankert, aber sie ist Teil des kollektiven Bewusstseins. Und noch in einem weiteren Punkt ist der 15. Mai 1955 bahnbrechend. Von da an war der Weg endgültig frei für die marktwirtschaftliche Orientierung des Landes. Mit dem US-Marshallplan war dieser Weg schon eingeschlagen, doch im sowjetisch besetzten Ostösterreich war das Konzept der sozialistischen Planwirtschaft noch nicht ganz vom Tisch.
So gesehen ist der 15. Mai der heimliche Nationalfeiertag. Es wurde dann der 26. Oktober. Aber das ist eine andere Geschichte.
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