Gelbwesten-Protest: Der Aufstand der Mittelschicht

Am Dienstag protestierten Hochschüler in Marseille gegen die Reformpläne der Macron-Regierung
Was sind die wahren Gründe für die Proteste in Frankreich? Und wie steht es um die Wirtschaft?

Die Lockerung des Arbeitsrechts, die Reform der Bahn: Diese Reformschritte waren Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einfach von der Hand gegangen. Die anfänglichen Widerstände der Gewerkschaften konnte er ziemlich mühelos überwinden.

Diese relativ leicht errungenen Erfolge, gepaart mit dem französischen System, das dem Staatschef fast uneingeschränkte Durchgriffsrechte einräumt, ließen ihn gewissermaßen übermütig werden: Bei den finanzpolitischen Umschichtungen zugunsten der Unternehmer preschte er vor, während die sozialen Begleitmaßnahmen erst langsam anlaufen. Die Unmutssignale aus der Bevölkerung unterschätzte Macron sträflich. So geriet das – für französische Verhältnisse – sehr marktfreundliche Reformprojekt ins Schleudern.

Kernproblem Industrie

Frankreichs Kernproblem ist seine schwindende Industrie: Diese beschäftigt nur noch 9,6 Prozent der Arbeitnehmer. Die Warenproduktion ist seit 2000 um drei Prozent zurückgegangen, während sie etwa in Deutschland um 25 Prozent zunahm. Die Produktion der Autofirmen sank gar um 28 Prozent, in Deutschland wuchs sie um 57 Prozent. Das Außenhandelsdefizit schwoll in den ersten acht Monaten 2018 auf den Rekordwert von 42 Milliarden Euro an; Deutschland verzeichnete zeitgleich 156 Milliarden Euro Exportüberschuss.

Französische Konzerne zählen noch immer zur Weltspitze, ihren Reichtum erwirtschaften sie aber nur zum geringen Teil in Frankreich. Die bis vor Kurzem noch höheren Lohnkosten als in Deutschland und das teilweise mangelnde Angebot an hochwertigen Produkten spielen ebenfalls eine Rolle.

Macron hielt mit einem konsequenten Abbau der Steuern für Unternehmer und Kapital-Eigner (Abschaffung der Vermögenssteuer und Einführung einer Flat Tax für Kapitalerträge) dagegen. Den Anfang dieses Welcome-Programms für Investoren hatte Macron bereits als Wirtschaftsminister zwischen 2014 und 2016, damals noch im Dienste des sozialistischen Präsidenten François Hollande, bewerkstelligt.

Höheres Wachstum

Dieser Kurs zeitigte erste Erfolge: Im dritten Trimester 2018 verbuchte Frankreich ein doppelt so hohes Wirtschaftswachstum wie die Eurozone. Zum ersten Mal seit 1999 wurden 2017 um einige Tausende Jobs mehr in der Industrie geschaffen als abgebaut. In Paris gaben sich hochrangige Brexit-Absiedler bei Schnuppertouren die Klinke in die Hand.

Macrons Förderprogramm für Unternehmen und Wohlhabende beläuft sich im Budget 2019 auf rund 45 Milliarden, die vorerst kaum durch Sparmaßnahmen ausgeglichen werden. Dafür erließ Macron breit gestreute Steuern, wie etwa eine Sozialabgabe auf Renten oder Gebührenerhöhungen auf Sprit.

Resultat: Nicht die Allerärmsten, sondern die sozial knapp darüber situierten Bevölkerungsschichten rebellierten. Leute in der Provinz und den Speckgürteln, die auf ihre Autos angewiesen sind, und die nur noch mit Dauer-Einschränkungen über die Runden kommen.

Macron versucht jetzt diese Arbeitnehmer und Pensionisten mit Abgabensenkungen in der Höhe von zehn Milliarden Euro zu besänftigen. Um so viel dürften sich die Zuwendungen für die Unternehmen reduzieren, die prioritäre Hinwendung des Staatschefs zu den Wirtschaftstreibenden bleibt aber aufrecht.

Gelbwesten-Protest: Der Aufstand der Mittelschicht

Heikles Vorbild: Frankreich auf Italiens Pfaden

Signale, dass der Euro-Stabilitätspakt nicht gar so ernst zu nehmen ist: Das gab es schon einmal. 2002 und 2003 verstießen ausgerechnet die Wirtschaftsschwergewichte Deutschland und Frankreich gegen die gemeinsam festgelegten Grenzen für das Budgetdefizit. Anstatt die Sünder zu bestrafen, wurden die Regeln gelockert. Das hatte eine fatale Signalwirkung für die Fiskaldisziplin aller anderen Euroländer.

Jetzt war Frankreich nach der Krise endlich wieder auf einem soliden Kurs: 2017 war das Defizit dank des ungewohnt guten Wachstums der Wirtschaftsleistung von 2,3 Prozent erstmals seit zehn Jahren unter drei Prozent des BIP geblieben. Der finanzielle Spielraum ist angesichts der extrem hohen Staatsschulden von 98,6 Prozent des BIP allerdings weiterhin sehr beschränkt.  

Deshalb hatte die EU-Kommission schon Ende November vor Risiken im Budgetplan für 2019 gewarnt – das war noch vor Macrons jüngsten Geld-Zugeständnissen für schlechtergestellte Franzosen, die voraussichtlich zehn Milliarden Euro kosten werden. Womit das Budget 2019 abermals gegen den EU-Grenzwert zu verstoßen droht.

Man muss kein großer Prophet sein, um zu prognostizieren: Italiens populistische und europakritische Regierung wird ganz genau beobachten, ob die EU-Kommission im Budgetstreit mit zweierlei Maß misst. 

Macron wollte Frankreichs Probleme – etwa die hohe Steuerlast und die hohen Arbeitskosten, zu wenige exportorientierte Klein- und Mittelbetriebe, falsche Anreize bei der Beschäftigung und im Sozialsystem – mit wirtschaftsfreundlichen (manche würden sagen neoliberalen) Reformen bekämpfen. Er hätte dabei besser auf die soziale Ausgewogenheit achten sollen, mahnte nun sogar das bekannt liberale Wirtschaftsmagazin Economist. Denn so haftet Macron nun das Etikett „Präsident der Reichen“ an.

Junger, charismatischer Reformer: Diese  Hoffnungen hatte 2014 auch Matteo Renzi (43) in Italien geweckt. Zweieinhalb Jahre später war er an seiner Abgehobenheit gescheitert - er hatte seine Strahlkraft und Popularität überschätzt und sich mit einer ambitionierten Verfassungsreform überhoben. Das sollte eine Warnung für Macron sein. Und mit ihm für alle Pro-Europäer: Denn jetzt sind in Rom die Nationalisten am Ruder. - H. SILEITSCH-PARZER

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