Es begann im Spiel. Mit einem Mathematik-Wettbewerb während seiner Studienzeit an der London School of Economics (LSE). Der erste Platz beförderte den Briten Gary Stevenson aus prekären Verhältnissen aufs exklusive Parkett der Londoner Börse. Und macht ihn in der Folge zum Aktivisten gegen soziale Ungleichheit.
Doch von vorne: Der Siegerpreis des „Trading Game“ war ein Praktikum bei der Citibank im 42. Stock eines Canary-Wharf-Hochhauses. Schnell wurde daraus eine Festanstellung, denn Gary erkannte, dass auch die Arbeit an der Aktienbörse eigentlich ein Spiel war. Eines, in dem man nur gewinnen konnte, wenn man bereit war, zu verlieren. Und mit dem Verlieren kannte er sich aus.
Er war klein, erinnert sich der heute 36-Jährige in seinem neuen Buch „Das Milliardenspiel“ (orig. „The Trading Game“, Bild), als ihn seine Eltern mit 1 Pfund zur Esso-Tankstelle schickten, um Limonade zu kaufen. Doch auf dem Weg verlor Gary die Münze. Gefühlt stundenlang suchte er das Geld, kroch unter Autos, griff in den Kanal – und kehrte schlussendlich ohne Münze oder Einkäufe zurück, dafür in Tränen. Wahrscheinlich dauerte die Episode in Wahrheit nur 30 Minuten. Aber 30 Minuten sind lang, wenn man ein Kind ist und 1 Pfund viel Geld ist.
7,5 Millionen Euro Verlust
Keine zwei Jahrzehnte später, im Mai 2010 verlor er als Aktienhändler in nur einer Woche 7,5 Millionen Euro, weil er auf die falschen Zinsen der Schweizer Bank gesetzt hatte.
Als er seinen Kopf in alten Studienbüchern vergrub, um seinen Denkfehler zu finden, schlug ihm sein Arbeitskollege Billy die Bücher aus der Hand: „Ich weiß, du hast verdammt viel Geld verloren. Aber du wirst keinen Penny in den Büchern finden. Schau dir lieber die Welt an. Sieh all die verdammten Läden, die geschlossen sind ... Sieh dir die Obdachlosen unter der verdammten Brücke an.“ Die Zeit der Bücher sei vorbei. Die Wirtschaft war kaputt. „Frag deine Mutter nach ihrer finanziellen Situation, deine Freunde.“
Reich durch Ungleichheit
Es war der Ratschlag, der Garys Leben veränderte – und ihn zum erfolgreichsten Trader der Citibank mit Prämien in Millionenhöhe machte.
Und doch möchte er seinen Weg nicht als Erfolgsgeschichte eines Arbeiterkindes verstanden haben: „Leute wie ich werden nicht reich“, sagt er, krempelt beim Pressegespräch in der Royal Overseas League in London die Ärmel seines T-Shirts über die Ellbogen. „Man muss alles auf seiner Seite haben. Man muss super viel Glück haben.“ Beim Mathe-Wettbewerb der LSE hatte ihm ein Studienkollege vorab die Regeln erklärt. Er hatte sich vorbereiten können. Und als er von der Schule flog, weil er Drogen verkauft hatte, rief der Direktor nicht die Polizei. Und ersparte Gary den Eintrag ins Vorstrafenregister, der Aufstiegschancen vernichtet hätte.
Doch natürlich war da viel mehr als nur Glück. Ein unglaubliches analytisches Geschick, die Risikobereitschaft von jemandem, der nichts zu verlieren hat, und Scharfsinn. Denn beim Geldverdienen an der Börse, erkannte Gary, ging es nicht darum ging, Recht zu haben. Sondern dann Recht zu haben, wenn alle falsch liegen. „Wenn die Vorhersagen der Leute falsch sind, sind auch die Preise falsch. Und wenn die Preise falsch sind, kann man ein Vermögen machen.“
Er wurde reich, weil er auf den Untergang der Gesellschaft setzte. Dass die Weltwirtschaft zerbrechen, die Ärmsten noch einmal ärmer, aber die Reichen, um ein Vielfaches wohlhabender werden. Im Spiel des Kapitalismus sind die Gewinner und Verlierer immer die Gleichen.
Canary Wharf. Mit mehr als 30.000 Beschäftigten ist London der größte Finanz- und Bankenplatz der Welt. Viele dieser Arbeitsplätze befinden sich im Canary Wharf Komplex. Einer der höchsten Türme ist der Citibank-Tower mit 42 Stockwerken.
Ungleichheit. 1 Prozent der Briten besitzen gemeinsam 3,2 Billionen Euro. Sie zu besteuern würde im Jahr zwischen 80 und 150 Milliarden Euro lukrieren. 14,4 Millionen Briten leben hingegen in Armut. Davon sind 4,2 Millionen Kinder.
Diese Erkenntnis macht zynisch. Ein Arbeitskollege, erzählt Gary, soll nachts gerne den Taxifahrer gebeten haben, an der Bank of England zu halten – um dann gegen die Seitenwand der Finanz-Institution zu urinieren.
Der Beginn der Rebellion
Manchmal kann die Erkenntnis auch zerstören. Gary schlief trotz Prämien, die höher waren „als die letzten 25 Generationen meiner Familie gemeinsam verdient haben“ in einem kahlen Zimmer mit einer Matratze. Das Herz begann zu rasen und der Arm zu zucken. Und gleichzeitig lockte das Geld, der Drang, mehr und noch mehr für die Bank zu erwirtschaften.
Als er mit 27 Jahren nur mehr 55 Kilo wog, zog er die Reißleine – und begann zu kämpfen. Zunächst befreite er sich aus den Fängen der Bank. Nun führt er eine Rebellion gegen das System an.
Auf seinem Youtube-Kanal „Garys Economics“ spricht er in einfachen, klaren Worten über den Tod der Mittelschicht, wieso das System manipuliert ist und weshalb es eine Reichensteuer braucht. Dass den Menschen vorgegaukelt werde, dass Ungleichheit schlecht, aber der Preis für eine gute Wirtschaft ist. Seine neue Wette: Wenn die Menschen wissen, was die Ungleichheit mit ihnen macht, würden sie diese nicht länger akzeptieren.
Kommentare