Andreas Treichl warnt, was die Geldpolitik betrifft, vor einer „Japanisierung Europas“. Denn die Europäer würden sich anders verhalten als die Asiaten, die nicht nur außerordentlich diszipliniert sind, sondern offenbar auch sehr langfristig denken. „Es gibt dort seit drei Jahrzehnten keine Zinsen, aber sie bringen trotzdem ihr Geld auf die Bank.“
Ist nach vielen Jahren eine ansprechende Summe beisammen, werde diese als Eigenanteil für den Kauf einer Wohnung verwendet. Bis dahin würden japanische Familien in viel zu kleinen Wohnungen leben.
„Ich weiß nicht, ob junge Menschen bei uns auch so leben wollen, bis sie 50 sind“, gibt Treichl zu bedenken: „Glück auf, wenn Politiker glauben, dass das in Europa so funktioniert.“
Kaufkraftverlust
Das Thema sei ernst, weil es noch lange aktuell bleibe. Zwar gebe die Politik den Banken die Schuld an den niedrigen Zinsen, so Treichl. Dabei seien die Europäische Zentralbank (EZB) und die Politik selbst die Verantwortlichen dafür, dass die Vermögen der Österreicher alleine im Vorjahr wegen der tiefen Zinsen rund fünf Milliarden Euro an Wert verloren haben.
Mit seiner Warnung vor „japanischen Verhältnissen“ steht Treichl nicht alleine da. Gemeint ist ein unheilvoller Mix: Die Wirtschaft wächst kaum, die Preise stagnieren trotz Negativzinsen. Warum es den Japanern dennoch relativ gut geht, ist nicht nur ihrer Disziplin zu verdanken.
Harte Landung
Japan zehrt vielmehr von der Substanz seiner Boomjahre. Denn vor 40 Jahren war Japan das, was China heute darstellt: eine wirtschaftliche Supermacht, deren Aufstieg unaufhaltsam schien.
Die Autoindustrie fuhr der westlichen Konkurrenz um die Ohren – obwohl wenige Jahre zuvor Honda, Toyota, Nissan und Co. als billige Kopien belächelt worden waren. Die Unterhaltungselektronik setzte (mit Marken wie Sony, Sanyo, Sharp, Toshiba, Canon oder Nikon) Maßstäbe und schuf Kulturikonen wie den Walkman.
Dann stürzte Japan 1990 in eine Finanzkrise, die Immobilienblase platzte, Banken kollabierten, kaputte Unternehmen gingen dank Zinstief nicht pleite, sondern wurden als „Zombie-Firmen“ mitgeschleppt. Eine weitere Analogie zum Europa der Post-Lehman-Ära seit 2008.
Heute steht niemand mehr Schlange, um die neuesten Produkte aus Nippon in Händen zu halten. Japan musste die Technologieführerschaft an die USA (Apple, Tesla), Korea (Samsung, LG) oder China (Huawei) abtreten.
Selbst nach dem Super-GAU von Fukushima hält Japan eisern an Atomkraft fest. Wer aber aus Nostalgie oder Tradition zulange an überalterten Technologien festhält, droht auf der Strecke zu bleiben. Auch das eine Lehre für Mitteleuropa, Stichwort Verbrennungsmotor.
Homogene Gesellschaft
Das schwache Wachstum hat aber noch einen Grund. Japan hält Europa auch in Sachen Demografie einen Spiegel vor: Es kommen kaum Kinder nach, bereits 28 Prozent der japanischen Bevölkerung sind über 65 Jahre alt (Österreich wird Prognosen zufolge diesen Anteil der 65-Jährigen erst im Jahr 2060 erreichen. Der aktuelle Wert bei uns ist 18,8 Prozent).
Aber wie lebt es sich eigentlich in einer Gesellschaft, die in die Jahre kommt? An sich müsste die „Japanisierung“ keine negative Entwicklung sein. Weniger Wachstum könnte bedeuten, dass die Wirtschaft nachhaltiger, umweltschonender, qualitätsvoller, innovativer wird. Also „besser“ statt „mehr“. Dieses Umdenken hat in Japan kaum stattgefunden.
„Das noch größere Problem als die Alterung ist der starke Bevölkerungsrückgang“, sagt Ingomar Lochschmidt, Österreichs Wirtschaftsdelegierter in Tokio. Täglich sterben um gut 1000 Menschen mehr, als geboren werden. Jahr für Jahr müsse Japan mit einer halben Million Arbeitskräfte weniger auskommen. „Und das gepaart mit der fast völligen Weigerung, Ausländern den Arbeitsmarkt zu öffnen.“
Denn die Japaner wollen unter sich bleiben. Erst seit April 2019 gibt es zaghafte Versuche, zwar nicht Zuwanderung, aber zumindest Gastarbeiter zu dulden. Denn die rund 1,5 Millionen ausländischen Arbeitskräfte, die schon da sind, gelten offiziell als Studenten oder Praktikanten bei Entwicklungsorganisationen. Die Visumsvergabe bleibt extrem restriktiv, ein Familiennachzug ist untersagt.
Für die Japaner gilt das als großer Wurf, dabei ist es ein Tropfen auf dem heißen Stein. Es waren ohnehin nur einige Tausend Bewerber erwartet worden. Geworden sind es in den ersten Monaten ein paar Dutzend. Die meisten waren schon zuvor als „Studenten“ in dem 123-Millionen-Einwohner–Land.
Zu wenige Querdenker
Ähnlich läuft es mit dem Versuch, Frauen in den Arbeitsprozess besser einzubinden. Auf dem Papier sei das gelungen, aber viele der Jobs sind prekär, sagt Lochschmidt.
Weil es zu wenige Arbeitskräfte gibt, will die Regierung, dass Ältere länger im Job bleiben – zumindest bis 70. Oder Pensionisten sollen eine Zweitkarriere als Unternehmensgründer starten.
Aber auch die schrumpfende Zahl der Leistungsträger muss über Limits gehen. „Karoshi“, Tod durch Überarbeitung, ist ein sehr japanisches Phänomen. Eine gängige Definition sieht ab 80 Überstunden (!) pro Monat ein erhöhtes Risiko. Längere Arbeitszeiten und blinder Fleiß fördern aber nicht die Kreativität, im Gegenteil.
Das japanische Schulsystem verlangt Unterordnung und Auswendiglernen. „Im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts braucht Japan aber keine Anpasser, die in blinden Fleiß verfallen. Es braucht Querdenker und Erfinder“, schreibt Wieland Wagner, intimer Kenner des Landes in seinem Buch „Japan, Abstieg in Würde“.
Jene Sonderlinge, die womöglich kreative Ideen haben könnten, kapseln sich in jungen Jahren ab und ziehen sich in freiwillige Isolation, meist im Elternhaus, zurück (genannt „Hikikomori“).
Dass Roboter den Arbeitskräftemangel – bis hin zur Altenpflege – beheben sollen, hält Wagner für eine Schimäre. Wirklich durchgesetzt habe sich das nicht. In den viel beworbenen Hotels taugen die Roboter kaum zu mehr als zu Small-talk. Die Arbeit erledigt der Gast selbst am Automaten, per Self-check-in.
Bei Industrierobotern hat Südkorea mit 710 Stück pro 10.000 Beschäftigten dem einstigen Weltmarktführer sogar den Rang abgelaufen. In Japan ist die Zahl seit 2009 von 331 auf 307 Roboter pro 10.000 Arbeitern gesunken.
Öffnung für Tourismus
Eine Wachstumsfantasie gibt es: den Tourismus. Auch hier hat sich Japan erst vor ein paar Jahren geöffnet, erstmals soll es Lizenzen für Kasinos geben. Schon jetzt regt sich aber Widerstand. Dass die Touristen auf der Straße rauchen, Dinge achtlos wegwerfen oder in der U-Bahn lauthals telefonieren, sorgt bei den harmoniesüchtigen Japanern für Unmut.
Es sei indes bemerkenswert, dass sich trotz schrumpfender Bevölkerung ein leichtes Wachstum ausgeht, sagt Lochschmidt. Das ist aber um einen hohen Preis erkauft: Japan hat mit 240 Prozent der Wirtschaftsleistung die höchsten Staatsschulden der Welt. Und hohe Schulden schmälern das künftige Wachstum – ein Teufelskreis.
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