Erdoğan bringt sein Land in wirtschaftliche Schieflage
Türkischer Präsident hält an niedrigen Zinsen fest und befeuert so Verfall der Lira sowie Inflation. Kaufkraft schwindet, fast jeder Zweite verdient nur Mindestlohn.
Eine Inflation von knapp 20 Prozent, eine türkische Lira, die allein seit Jahresbeginn rund 40 Prozent ihres Werts gegenüber dem Dollar eingebüßt hat. Und ein Präsident, Recep Erdoğan, der an seiner Haltung festhält, hohe Zinsen würden die Inflation befeuern, diese daher niedrig hält und von einem „wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg“ spricht. Für das türkische Volk schwindet die Kaufkraft.
„Offiziell liegt die Inflation bei 20 Prozent, Ökonomen gehen aber davon aus, dass sie inoffiziell noch höher liegt“, sagt Georg Karabaczek, Österreichs Wirtschaftsdelegierter in der Türkei, gegenüber dem KURIER. Was Erdoğan mit dieser Art der Wirtschaftspolitik bezweckt, darüber würden Expertinnen und Experten mutmaßen. „Es widerspricht den Wirtschaftsgesetzen. Es ist eine sehr seltsame Situation“, fängt Karabaczek deren Meinung ein.
Früher Wahlkampf
Nicht zuletzt könne man die Situation als frühen Wahlkampf zu den Parlamentswahlen 2023 sehen. Die Opposition greife sie auf, um gegen Erdoğan Stimmung zu machen. Der will hingegen Wachstum um jeden Preis erzwingen. Die Stimmung sei schlecht, den Unternehmen mache vor allem die Unsicherheit zu schaffen. In der Bevölkerung würden 40 bis 50 Prozent am Mindestlohn verdienen, schätzt Karabaczek. „Deswegen hat der Mindestlohn hier eine sehr hohe Bedeutung.“ Es gebe Verhandlungen, diesen zu erhöhen. Was auch passieren müsse, um die Kaufkraft zu stärken.
Der Bevölkerung scheint der Geduldfaden langsam zu reißen. Besonders Aussagen eines AKP-Abgeordneten und der First Lady Emine Erdoğan, man könne doch kleinere Portionen essen, heizten die Stimmung weiter auf. Dienstagabend kam es in mehreren türkischen Städten zu Protesten. Die Frustration über die Regierung war deutlich zu spüren. „AKP ins Grab, Volk an die Macht“ war eine der Parolen, die die Menschenmenge schrie. Auch deutliche Rufe nach Neuwahlen waren zu hören. Nicht nur bei den Protesten, sondern auch auf dem sozialen Medium Twitter, wo Hashtags wie „Rücktritt“ oder „Dollar13Tl“ seither trenden.
Profiteure?
Einige Profiteure gibt es dennoch, zumindest auf den ersten Blick. Da sind die exportorientierten Unternehmen. „Aber auch diese Unternehmen müssen ja importieren. Die Türkei ist Nettoimporteur. Unterm Strich geht sich diese Rechnung also wohl nicht aus“, erklärt Wirtschaftsdelegierter Karabaczek. Der Türkei-Urlaub ist außerdem günstig wie nie zuvor. Und aus Bulgarien und Griechenland kämen viele zum Einkaufen.
Wie es mit der wirtschaftlichen Situation in der Türkei weitergeht, kann niemand prognostizieren, so Karabaczek. Am ehesten wird vermutet, dass Erdoğan doch die Zinsen anheben lässt, wie es in der Vergangenheit passiert war. Die türkische Wirtschaft jedenfalls sei eine „sehr resiliente“ mit „viel Substanz“.
Um eine hohe Inflation wie in der Türkei einzubremsen, wird normalerweise an der Zinsschraube gedreht, nämlich nach oben. Dennoch senkte die türkische Notenbank den Leitzins des Landes zuletzt auf Betreiben Erdoğans von 16 auf 15 Prozent.
Denn niedrigere Zinsen sorgen für eine verstärkte Kreditvergabe, mehr Investitionen und höheres Wachstum. Dieses lag in den ersten beiden Quartalen aber ohnehin bei 7 bzw. 22 Prozent. Erdoğan will dieses Wachstum noch weiter vorantreiben, aber es ist auf dünnem Eis gebaut.
Denn durch die Zinssenkungen fällt der Wert der Landeswährung Lira. 40 Prozent Minus sind es alleine in diesem Jahr. Importwaren werden damit sukzessive teurer.
So sind derzeit Elektronikartikel wie Smartphones zum Teil ausverkauft. Die Käufer horten die Geräte in der Annahme, durch die steigenden Preise sie schon bald teurer weiter verkaufen zu können. Apple dürfte infolge nun den Verkauf von iPhones im Land gestoppt haben.
Eigentlich wüssten die türkischen Notenbanker, dass sie den falschen Kurs eingeschlagen haben. Doch sind sie alles andere als unabhängig. Seit 2019 wurden drei Notenbankchefs von Erdoğan entlassen, da sie seinen Kurs nicht mittragen wollten.
„Wenn die Zentralbank nicht bald einschreitet, kann das Finanzsystem dem nicht mehr standhalten“, warnte der frühere Chefvolkswirt der Notenbank, Hakan Kara. Die Inflation könne in den kommenden Monaten auf mehr als 30 Prozent steigen.
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