Lange Liste von Gründen
Da sind zum einen langfristige Faktoren, sagt Ökonom Stephan Schulmeister im Gespräch mit dem KURIER. „Die Lohnquote (Anteil der Einkommen unselbstständig Beschäftigter am Bruttoinlandsprodukt, Anm.) geht seit fast 40 Jahren zurück“, erklärt er. Auch die Mieten und Wohnungspreise stiegen langfristig überdurchschnittlich an. „Das birgt auch innerhalb der Generationen Konflikte – es wird schwierig für Junge, sich ein Eigenheim zu kaufen, wenn sie kein Vermögen in der Familie haben.“ Eine weitere Verschärfung habe es im Zuge der Finanzkrise 2008 gegeben. Sie hätte schwerwiegende Folgen für den Arbeitsmarkt und die atypisch Beschäftigten gebracht. „Das ist ein Problem, das in einzelnen Ländern ungleich größer ist. Es gibt Staaten in Europa, in denen die Hälfte der Beschäftigten keinen sozialversicherten Arbeitsplatz hat.“
Die Covid-Pandemie hat die Situation natürlich angesichts hoher Arbeitslosen- und, wo vorhanden, Kurzarbeitszahlen nicht verbessert. „Was das Fass jetzt vielleicht endgültig zum Überlaufen bringt, ist die Inflation. Das ist eine Entwicklung, bei der die Betroffenen völlig ohnmächtig daneben stehen“, konstatiert der Wiener Ökonom. Immerhin könne man etwa bei Lohnverhandlungen hoffen, dass „die Vertreter entsprechend gegenüber den Arbeitgebern auftreten“, sagt Schulmeister.
Ungerechtigkeit
Die große Ungerechtigkeit aktuell: Sie trifft überproportional die, die ohnehin schon arm sind, sagt Schulmeister. „Das hängt mit den stark steigenden Rohstoffpreisen zusammen, die Energie und Nahrungsmittel verteuern. Auch die Mieten steigen. Das wird auch in Österreich zu einem Problem“, fasst er zusammen. Denn aufgrund der 5-Prozent-Klausel, nach der eine Inflationsanpassung der Mieten passieren kann, sobald die Teuerung um 5 Prozent gegenüber dem Zeitpunkt der letzten Erhöhung gestiegen ist, trifft das bei einer hohen Inflation aktuell viele.
„Politisch ist jetzt die Gefahr, dass die Rechtspopulisten, die bisher die Situation nicht voll für sich nutzen konnten, wieder stärker werden. Die Zeit wird für sie arbeiten.“ Heißt: Die Rechtspopulisten könnten in ihren Thesen à la „Hätten wir Putin nicht sanktioniert, wäre das alles nicht passiert“ stärker Gehör finden.
Mehr Transparenz
Zu tun gebe es eine Menge, sieht Schulmeister. Etwa mehr Transparenz im Einzelhandel schaffen, was die Preise angeht. Er vermutet, ähnlich wie es den Mineralölkonzernen vorgeworfen wird, dass der Lebensmitteleinzelhandel Preise für Waren überproportional steigert, wenn ein Bestandteil teurer geworden ist. „Ich beobachte, dass im Einzelhandel der Brotpreis stärker erhöht wird, als das dem Anstieg beim Weizenpreis entspricht“, sagt der Ökonom. Eine Verpflichtung zur Ausschilderung der Preise online würde helfen, Transparenz zu bringen. Diese Transparenz könne etwa über eigene Apps leicht sichergestellt werden. „Auch die Wettbewerbsbehörde müsste viel aktiver werden.“
Dass es in Österreich nicht so viele Streiks wie in anderen europäischen Staaten gibt, sei mit der Historie der Gewerkschaften und der Sozialpartnerschaft zu begründen. In Österreich gibt es mit dem ÖGB eine Dachorganisation, der die Streiks der Teilorganisationen im Überblick hat. „In Ländern in Südeuropa gibt es keine einheitlich organisierten Gewerkschaften.“
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