Dax-Reform nach Wirecard-Desaster
Ein Gutes hat der Wirecard-Bilanzskandal: Der deutsche Leitindex Dax bekommt neue Regeln. Der jähe Absturz des einst als Börsenstar gefeierten Zahlungsdienstleisters hat den Finanzplatz Deutschland aufgeschreckt. Nach Bilanzfälschung, Betrugsvorwürfen und Insolvenz der Wirecard AG stellte die Deutsche Börse schon im Juni fest, es gelte nun, "das Vertrauen in den Kapitalmarkt zu stärken".
Nun wird einiges anders im Deutschen Aktienindex, wie der Frankfurter Marktbetreiber am Dienstag mitteilte. Die auffälligste Veränderung: Der Dax bekommt Zuwachs. Von September 2021 an spielen 40 statt 30 Konzerne in der ersten deutschen Börsenliga. Der MDax der mittelgroßen Werte wird im Gegenzug zwei Jahre nach seiner Erweiterung wieder von 60 auf 50 Unternehmen geschrumpft.
Schon zum 30. Dax-Jubiläum im Juli 2018 hatte Deutsche-Börse-Chef Theodor Weimer laut darüber nachgedacht, den Dax "etwas breiter aufzustellen" - schließlich ist der Dax das Barometer der deutschen Wirtschaft und für die Börse das Aushängeschild. Allabendlich flimmern die Kurse aus dem Frankfurter Handelssaal zur besten TV-Sendezeit in Deutschlands Wohnzimmer.
Ein Ziel der jetzigen Reform: Der Leitindex soll repräsentativer werden. Der Dax werde in seiner neuen Zusammensetzung "die größten börsennotierten Unternehmen in Deutschland noch umfassender abbilden", betonte die Börse. Lange wurde der Dax von vier Branchen dominiert: Chemie, Autoindustrie, Energie, Finanzdienstleistungen. Das Problem: Gerät eine dieser Branchen unter Druck - zuletzt zum Beispiel die Autohersteller -, lähmt das den gesamten Index.
"Eine Dax-Reform war spätestens seit dem Wirecard-Skandal überfällig", kommentierte Marc Decker von der Privatbank Merck Finck. Die Änderungen seien aber erst der erste Schritt. "Tatsächlich gibt es ... viel größere Schwächen, die sich durch die Reform der Indexregeln nur bedingt lösen lassen: zum einen die unterentwickelte Aktienkultur und zum anderen die relativ geringe Marktkapitalisierung deutscher Konzerne." Gemessen am Börsenwert seiner Mitglieder sei der Dax im internationalen Vergleich ein Leichtgewicht.
Neu aufnehmen in den Dax will die Börse künftig nur noch profitable Unternehmen. Pleitekandidaten und Konzerne, die ihrer Pflicht zur fristgerechten Veröffentlichung von Zwischenberichten nicht nachkommen, sollen nichts mehr im Dax verloren haben.
Schon während der Beratungen über die vorgeschlagenen Veränderungen gab es skeptische Stimmen. Es sei anzunehmen, "dass durch die Profitabilitätsanforderungen gerade jungen und wachstumsstarken Unternehmen, denen es allerdings noch an entsprechenden Gewinnen fehlt, der Zutritt zum Börsenolymp verwehrt" bleibe, schrieben Analysten des Kölner Vermögensverwalters Flossbach von Storch.
Beispiel Delivery Hero: Der Essenslieferant ersetzte Mitte August Wirecard im Dax. Allerdings: Delivery Hero hat seit seiner Gründung 2011 im laufenden Geschäft noch nie Geld verdient. Die gute Nachricht für den Newcomer im Kreis der Dax-Dinos: Wer bereits im Dax ist, wird aufgrund der verschärften Regeln nun nicht hinausgeworfen.
12 der 30 Konzerne sind seit dem Dax-Start am 1. Juli 1988 ohne Unterbrechung in dem Index gelistet: Allianz, BASF, Bayer, BMW, Daimler (zuvor Daimler-Benz), Deutsche Bank, E.ON (2006 entstanden aus Veba und Viag), Henkel, Linde, RWE, Siemens und Volkswagen.
Kontinuität in der Dax-Familie gibt es - zum Leidwesen von Rüstungsgegnern und Umweltschützern - auch in einem anderen Punkt: Durchgefallen ist der Vorschlag, Unternehmen auszuschließen, die mehr als zehn Prozent ihres Umsatzes mit der Herstellung umstrittener Waffen machen. Dies wäre zum Beispiel für den derzeit im MDax notierten Luft- und Raumfahrtkonzern Airbus zum Problem geworden.
"Wir haben ein sehr heterogenes Meinungsbild zu den Themen Nachhaltigkeit und ESG ... bekommen", fasste die Deutsche Börse den vierwöchigen Austausch mit Marktteilnehmern auch mit Blick auf Kriterien wie Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung (englisch abgekürzt ESG) zusammen. "Es wird von vielen Seiten die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob diese Kriterien bei der Auswahl der Dax-Mitglieder eine Rolle spielen sollten." Mehr als 600 Antworten waren eingegangen: von Banken und Brokern, Verbänden und Profiinvestoren. Besonders groß war dabei die Gegenwehr bei der Frage, ob der Dax moralischer werden soll.
Das Dax-Regelwerk dürfe "kein Einfallstor für gesellschaftspolitische Debatten und Meinungen werden", hatte das Deutsche Aktieninstitut in seiner Stellungnahme betont. Die Dax-Familie solle Anlegern "eine konzentrierte Information über die Entwicklung des gesamten Aktienmarktes" geben. "Dazu gehört es nicht, die Geschäftsmodelle der Indexmitglieder vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Debatten zu bewerten und gegebenenfalls auszuschließen", schrieb das Institut.
Nach Ansicht von Greenpeace hat die Deutsche Börse "die große Chance verpasst, den Zugang zum Dax an ethische Kriterien zu knüpfen". Die neuen Regeln als "Rückschritt für Menschenrechte und Klimaschutz im Finanzsektor", kritisierte die Initiative Urgewald.
Ingo Speich, Leiter Nachhaltigkeit bei der Deka, wertet die neuen Regeln insgesamt als "deutliche qualitative Verbesserung": "Ein breiterer Dax bedeutet auch mehr Streuung und damit mehr Stabilität." Privatanleger haben nach Ansicht der Hamburger Sutor Bank jedoch wenig von der Reform: "Ganz gleich, ob der Dax 30 oder 40 Werte enthält - Privatanleger sollten sich besser an andere, breiter streuende Indizes halten. Das reduziert nicht nur das Risiko, sondern kann auch die Performance verbessern."
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