Corona hält 100.000 Seeleute auf Frachtern fest

Vor knapp einer Woche ist der Frachter "Grande America" gesunken
Kapitän: "Ich habe gestandene Männer weinen sehen" - Manche wollen aufgeben, das könnte Lieferengpässe verschärfen

Sie fühlen sich vergessen von der Welt, haben ihre Familien seit Monaten nicht mehr gesehen und wissen nicht, wohin die Reise als nächstes geht. Rund 100.000 Seeleute schippern derzeit auf riesigen Containerschiffen über die Weltmeere und dürfen wegen der neuen Coronawellen in ihren asiatischen Heimatländern oft nicht von Bord. Die wenigsten von ihnen sind geimpft, Depressionen und Suizide nehmen zu.

Viele Seefahrer wollen ihren Job an den Nagel hängen, wie Gewerkschaften berichten. Die globalen Lieferprobleme könnten deshalb noch schlimmer werden.

"Ich habe gestandene Männer weinen sehen", sagt Kapitän Tejinder Singh, der seit über sieben Monaten keinen festen Boden mehr unter den Füßen hatte und nicht sicher ist, wann er nach Hause kann. Sein letzter Einsatz dauerte elf Monate - länger ist nicht erlaubt laut UN-Seefahrtsübereinkommen. "Wir sind vergessen und werden als selbstverständlich angesehen", klagt der Inder. "Die Leute da draußen machen sich keine Gedanken darüber, wie die Regale in ihren Supermärkten gefüllt werden."

Fast den ganzen Globus 

Singh und die meisten aus seiner 20-köpfigen Crew haben auf einer anstrengenden Odyssee mittlerweile fast den ganzen Globus umrundet: Von Indien über die USA ging es weiter nach China, wo sie wochenlang vor überlasteten Häfen festsaßen und darauf warteten, Fracht abzuladen. Mittlerweile ist sein Schiff nach Australien unterwegs. Irgendwo im Pazifischen Ozean erreichte ihn der Anruf der Nachrichtenagentur Reuters.

Die meisten der rund 100.000 auf den Weltmeeren gestrandeten Seefahrer hatten in den vergangenen Monaten keinen Tag Pause an Land, berichtet die Internationale Schifffahrtskammer (ICS). In der Regel dauern ihre Einsätze auf den Containerschiffen drei bis neun Monate.

Auf der anderen Seite sitzen ebenfalls schätzungsweise 100.000 Seefahrer an Land fest und können nicht an Bord der Schiffe gehen, auf denen sie ihren Lebensunterhalt verdienen.

Seeleute können teilweise nicht an Land 

Die meisten der etwa 1,7 Millionen kommerziellen Seeleute weltweit kommen aus Asien, Mehr als ein Drittel stammt aus Indien und den Philippinen. In vielen asiatischen Ländern wütet die Delta-Variante des Virus und Regierungen untersagen es, dass die Besatzungen an Land gehen dürfen - manchmal wird ihnen sogar medizinische Versorgung verweigert.

"Es ist hart, so lange auf See zu sein", sagt Singh. Das Leben an Bord ist karg, die Kabinen für die Besatzung messen nicht einmal achteinhalb Quadratmeter. Er habe Berichte von Seeleuten auf anderen Schiffen gehört, die sich das Leben genommen hätten, sagt Singh. Viele seien körperlich und mental am Ende. "Die am schwierigsten zu beantwortende Frage ist, wenn Kinder fragen: 'Papa, wann kommst du nach Hause?'"

"humanitäre Krise auf See" 

Die Vereinten Nationen sprechen von einer humanitären Krise auf See und setzen sich dafür ein, dass Regierungen Seeleute als systemrelevante Arbeitskräfte einstufen und sie so schneller geimpft werden können. Laut Schätzungen der ICS sind gerade einmal 2,5 Prozent der Seefahrer geimpft. Die meisten von ihnen kommen aus Entwicklungsländern, wo Regierungen Probleme haben, ausreichend Impfstoffe für ihre Bevölkerung zu besorgen. Deshalb fordert die ICS wohlhabendere Länder auf, dem Beispiel der USA und der Niederlande zu folgen und Seeleute jeglicher Nationen zu impfen, die zum Be- oder Entladen in ihre Häfen kämen. Dazu gebe es eine moralische Verpflichtung.

Beunruhigung: "Zweite globale Besatzung" 

Dass die Seefahrer ihrer Arbeit weiterhin nachgehen, ist wichtig für die ganze Welt: Auf Containerschiffen werden rund 90 Prozent der globalen Waren transportiert. Fehlen Arbeitskräfte, könnten Öl, Eisenerz, Lebensmittel und elektronische Teile knapp werden. In einigen Branchen gibt es schon Lieferengpässe aus anderen Gründen. "Wir sind ernsthaft beunruhigt, dass sich am Horizont eine zweite globale Besatzungskrise abzeichnet", sagt ICS-Generalsekretär Guy Platten. 2020 gab es ähnliche Probleme, als wegen der Pandemie 200.000 Seeleute eine Zeit lang nicht von anderen Crews abgelöst werden konnten.

In normalen Zeiten kommen durchschnittlich jeden Monat 50.000 Seeleute auf Schiffe, 50.000 andere gehen an Land. Diese Rotation gilt seit dem Ausbruch der Coronapandemie nicht mehr. Das mache beide Gruppen verzweifelt, sagt Rajesh Unni, Chef der Synergy Marine Group, ein Schiffsmanagement-Dienstleister, der für 14.000 Seeleute verantwortlich ist. Die Männer auf den Schiffen wollten nach Hause, die Männer an Land wollten an Bord, um dringend benötigtes Geld zu verdienen. Japan und Singapur seien die einzigen Länder in Asien, in denen routinemäßige Besatzungswechsel derzeit in gewissem Umfang möglich seien.

Zu wenige Berufsseefahrer 

Fast die Hälfte der Berufsseefahrer will laut einer Umfrage der International Transport Workers' Federation (ITF) die Branche verlassen oder denkt zumindest darüber nach. "Wir haben ohnehin schon zu wenige Seefahrer", warnt Mark O'Neil, Geschäftsführer des Schiffsmanagers Columbia Shipmanagement. "Aber jetzt haben wir all diese Probleme und eine große Anzahl an Seeleuten ist nicht mehr Teil des verfügbaren Besatzungspools." Es sei nicht auszuschließen, dass Schiffe in der Folge nicht fahren könnten. Wenn etwa Seefahrer-Zentren wie Myanmar, Vietnam oder die Ukraine ähnlich wie Bangladesch, Vietnam und Indonesien in einen neuen Lockdown gingen, werde das System richtig ins Wanken geraten.

ITF-Generalsekretär Stephen Cotton schätzt, dass es künftig bis zu 25 Prozent weniger Berufsseefahrer geben wird als vor der Pandemie. "Wir haben die globalen Markenhersteller gewarnt, dass sie sich darauf vorbereiten müssen, dass einige dieser müden und erschöpften Menschen schließlich ganz aufgeben."

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