Bfi-Chef Lackinger: "Viele Jugendliche sind schulmüde“

Bfi-Chef Lackinger: "Viele Jugendliche sind schulmüde“
Er kritisiert die Akademisierung aller Berufe und will das Poly abschaffen.

Der Leiter des Berufsförderungsinstituts Wien, Franz-Josef Lackinger, will eine neue „Berufsgrundbildung“ und setzt auf „Meister statt Master“.

Bfi-Chef Lackinger: "Viele Jugendliche sind schulmüde“

KURIER: Das Berufsbildungssystem kommt in den Städten an seine Grenze, sagten Sie kürzlich bei einer Podiumsdiskussion. Was ist das Problem?
Franz-Josef Lackinger:
Das Hauptproblem aus Wiener Sicht ist, dass immer größere Gruppen den Sprung zwischen Schule und Berufseinstieg nicht nahtlos schaffen. Da gibt’s ein paar Systembrüche – zum Beispiel, dass die Schulpflicht neun Jahre dauert, die Pflichtschule jedoch nur acht Jahre. Die Polytechnische Schule ist in den Ballungszentren aber am Ende.

Sie müsste abgeschafft werden?
Abgeschafft oder reformiert. Das ist jetzt keine Kritik an den dort unterrichtenden Lehrern: Aber wenn fast alle Wiener Poly-Absolventen eine Nachbetreuung durch das Arbeitsmarktservice brauchen, dann ist, glaube ich, die Grenze erreicht.

Welche Lösungen gibt es?
Die Sozialpartner wollen die Schulpflicht verlängern. Aber viele Jugendliche sind schulmüde. Die Pflichtschule schafft es nicht, diese 25 Prozent, die das System fast als sekundäre Analphabeten verlassen, zu motivieren. Sie delegiert das Problem an andere weiter – oft auch aufgrund des Drucks von Eltern, die schlechte Noten nicht akzeptieren wollen.

Wer einmal durchfällt, muss nicht ins Poly, hat die Schulpflicht hinter sich. Es geht um Jahre, nicht ums Bildungsziel.
Auch das ist ein Systembruch. Dazu kommt noch ein schleichender neuer Brauch: Zeugnisse garantieren nicht mehr die nächste Stufe. Weiterführende Bildungseinrichtungen selektieren, und die Aufnahmeverfahren in der Wirtschaft sind teilweise schärfer als so manches Assessment-Center. Da prallen zwei Welten aufeinander: Die Schule, die ihre Pflicht erfüllt sieht. Und das Andocksystem, das sich eigene Einstiegshürden bastelt.

Wer ist da jetzt komplizierter geworden? Die Firmen, die Schule oder die Jugendlichen?
Es ist sinnlos, Schuldige zu suchen. Vor 20 Jahren gab es viel mehr Hilfstätigkeiten, und Frauen stellten sich darauf ein, Hausfrau zu sein. Die Anforderungen in den Betrieben sind gewachsen. Aber wie viele Firmen leisten sich wirkliche Lehrwerkstätten?

Umgekehrt sagen immer mehr Firmen, die Lehrlingsausbildung werde immer aufwendiger, weil man so viel nachholen müsse, was in Schulen und Familien versäumt wurde: von Manieren bis Rechnen.
Daher brauchen wir eine Berufsgrundbildung, eine neue Form der Kooperation zwischen Schulen, Firmen und außerschulischen Institutionen, wie das Bfi eine ist. Aber nicht als Nebengleis oder Auffangnetz für Fälle, die schon eine längere Geschichte von Versagen hinter sich haben.

Das müssten alle machen, die später eine Lehre beginnen?
Ja, das wäre möglich.

Viele Firmen beklagen, dass junge Bewerber nicht einmal zu vereinbarten Vorstellungsgesprächen erscheinen.
Es hat sich bei der Kultur, was Verbindlichkeit und Manieren betrifft, Dramatisches verändert. Zunehmend fühlen sich ja auch Lehrer von den Erziehungsaufgaben überfordert. Neben der entscheidenden Frage der Berufsorientierung ginge es in diesem Berufsgrundbildungsjahr auch um das Sozialverhalten .

Wir sind eine multikulturelle Gesellschaft. Hat das Bildungssystem darauf reagiert?
Lehrende bekommen nicht die entsprechenden Kompetenzen in ihrer Ausbildung vermittelt. In unserer Handelsakademie haben wir auch lange kämpfen müssen, damit wir Bosnisch, Serbisch und Kroatisch als zweite lebende Fremdsprache unterrichten durften. Das Schulwesen ist eher system- als kundenorientiert. Das System sagt, man darf den Unterricht erst starten, wenn die Klassen für die bisherigen Zweitsprachen Italienisch und Französisch gefüllt sind.

Mehr Zweisprachige wäre ein Standortvorteil für Österreich?
Ja. So sprechen etwa viele Serben zweiter Generation die Sprache zwar, aber haben nicht eine geschäftsfähige Kompetenz in Wort und Schrift. Auch für Türkisch, gäbe es großen Bedarf. Aber dafür gibt es derzeit nicht einmal ein Lehramtsstudium.

In welchen ethnischen Gruppen tun sich Jugendliche besonders schwer, Jobs zu finden?
Es gibt Hinweise, dass es Tschetschenen besonders schwer haben, weil sie sich abschotten.

Es findet eine Akademisierung aller Lebensbereiche statt. Die handwerkliche Ausbildung ist im Image-Tief.
Das ist ein absolutes Problem. Unter dem Schlagwort „Meister statt Master“ wollen wir daher Initiativen setzen, um die Lehre attraktiver zu machen. Es wird auch ein Lehrlings-Mentoring-Programm geben. Wir wollen den Jugendlichen sagen: Die Matura ist nicht der einzige Erfolgsweg. Eine Meisterprüfung bietet Perspektiven – und sogar alte Berufe erleben eine Renaissance, etwa der Hafnermeister, der moderne Kachelöfen designt.

Gibt es eine Akademisierung aller Berufe?
Europa hat das stark akademisierte amerikanische System zu schnell übernommen. Jetzt drängen alle in Richtung einer zumindest theoretisch möglichen akademischen Karriere, das Handwerk wurde dadurch abgewertet. Daher muss man an der Schnittstelle – mit 14, 15 Jahren – dringend etwas verändern.

Würde das die gemeinsame Schule ändern?
Ja, wenn man es gescheit macht. Und hoffentlich würde sich ändern, was unsere Trainer jetzt feststellen: dass bis zu 50 Prozent unserer Jugendlichen nicht in der Lage sind, ein Fachskriptum sinn-erfassend zu lesen. Es müssen Bildungsziele definiert werde, die Landessprache muss ordentlich beherrscht werden. Außerdem sollte man ausrechnen können, wie schnell man mit einem Überziehungszinssatz in die Schuldenfalle kommt. Viele Jugendliche haben mit 15, 16 so hohe Schulden, dass sie da fast nicht mehr rauskommen.

Was sagen Sie zu den endlosen Lehrerverhandlungen?
Die Länge ist relativ zu sehen. Auch andere Berufsgruppen brauchen ihre Zeit, bis so gravierende KV-Änderungen vereinbart sind. Man hätte sich aber leichter getan, wenn sich die Koalition vorher auf die gemeinsame Schule geeinigt hätte.

Was wünschen Sie sich von der nächsten Regierung?
Dass die Bildungspflicht bis 18 umgesetzt wird. Acht bis 12 Prozent jeden Jahrgangs ohne Bildungsabschluss in die Berufswelt beziehungsweise auf die Sozialämter zu entlassen, ist unverantwortlich.

Welches Druckmittel gäbe es, wenn Bildung verweigert wird?
Das kann über Transferleistungen geschehen. Im Arbeitsmarktservice gibt es ja auch Sperren von Arbeitslosenunterstützung. Natürlich muss man aufpassen, dass man dabei nicht die Falschen trifft.

Alle Interviews zur Serie "Was braucht Österreich? Aufträge an die Politik" finden Sie HIER.

Lehrlings- und Erwachsenenbildung

Franz-Josef Lackinger ist seit 2011 Geschäftsführer des Berufsförderungsinstituts Wien. Er studierte Geschichte und Germanistik und ist seit 1988 in der Erwachsenenbildung tätig. Bis 2003 arbeitete er als ÖGB-Bildungsreferent. Vor seiner jetzigen Funktion war er Bfi-Personalchef und begleitete die Expansion des Instituts. Lackinger setzt sich seit jeher für die überbetriebliche Lehrausbildung ein. Seine eigene Bildungseinrichtung nutzte er auch selbst, indem er an der Fachhochschule des Bfi die Zusatzausbildung „BWL für Führungskräfte“ absolvierte.

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